Socrates - Der friedvolle Krieger
Grab. Sie setzten sich still hin, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Sergej fühlte sich Anja so nahe, dass er sie mit geschlossenen Augen vor sich sehen konnte. Er sah sie, wie sie damals ausgesehen hatte und wie sie für ihn immer aussehen würde. Er hörte ihre Stimme und ihr fröhliches Lachen. Er spürte ihre Hand in der seinen und er wusste, dass sie für den Rest seines Lebens stets ein Teil von ihm sein würde. Und irgendwann würden sie sich wiedersehen.
Als sie in die Stadt zurückkehrten, sprachen die drei nur wenig miteinander, aber plötzlich ergriff Valeria Sergejs Hand und sagte etwas. Sie sagte es so leise, dass er es fast nicht gehört hätte. »Die armen Babys …«
»Was?«, fragte er erstaunt. »Was hast du gesagt, Mutter?«
Sie antwortete traurig: »Ich musste nur gerade an die Babys denken, die sterben mussten, noch bevor sie geboren wurden. Aber wenigstens liegen sie bei ihrer Mutter.«
»Babys?«, unterbrach sie Sergej. »Ich verstehe nicht ganz.«
»Ich … ich dachte, du wüsstest es, Sergej. Es tut mir so leid, ich hatte keine Ahnung, dass du …«
»Mutter, nun sag mir endlich, was du meinst!« Sergej wurde ungeduldig.
»Anja hat sich mir anvertraut, aber dir wollte sie noch nichts sagen, falls sich die Hebamme geirrt haben sollte. Die Frau war sich sicher, dass Valeria Zwillinge bekommen würde. Ich dachte, sie hätte es dir doch noch gesagt.«
Sergej starrte dumpf vor sich hin. Babys. Anja trug also zwei kleine Leben unter dem Herzen . Sergejs Gedanken drehten sich wie wild im Kreis, während er versuchte, Worte und Bilder aus seiner Erinnerung zusammenzusetzen. Valeria hatte oft gesagt, wie ungewöhnlich dick Anja war. Und Anja hatte gescherzt: »Ich muss wohl eine ganze Balletttruppe im Bauch haben - so wie die um sich treten.« Dann das schreckliche Bild des offenen Bauches, die blutigen Gedärme und …
Sergej hatte den Tod eines Kindes mit ansehen müssen, aber dann war er bewusstlos geworden. Und später hatte er nur den Körper eines Babys gefunden. Wären es Zwillinge gewesen, hätte er doch den zweiten Körper auch finden müssen.
Aber dann ging ihm plötzlich ein Licht auf: Dimitri Sakoljew musste das zweite Baby mitgenommen haben . Sein Sohn war am Leben! Vielleicht , korrigierte er sich schnell. Und wenn er lebte, würde er bei Sakoljew sein. Aber genau konnte er das natürlich nicht wissen. Aber die Chance bestand, dass das zweite Kind immer noch lebte.
All diese Überlegungen spielten sich in Sekundenbruchteilen ab. Valeria wusste nichts davon und musste auch nichts wissen. Für sie waren beide Kinder mit der Mutter gestorben und neben ihr begraben. Und in diesem Glauben würde Sergej sie auch lassen, es sei denn, er brächte den Jungen gesund nach Hause.
»Sergej? Sergej? « Valerias Stimme brachte ihn zurück in die Gegenwart.
»Es tut mir leid. Ich habe nur gerade an Anja denken müssen. Und an die beiden Babys. Ich versuche mir nur vorzustellen, was alles hätte sein können.«
Sie seufzte auf: »Ja, was hätte alles sein können.«
Manchmal treffen wir die Entscheidungen, die unser Leben verändern, und manchmal treffen andere Menschen diese Entscheidungen für uns. Und ein oder zwei Mal im Leben erkennen wir möglicherweise, dass unser ganzes bisheriges Leben uns an diesen einen Punkt gebracht hat. So erging es jetzt Sergej. Plötzlich hatte sein Leben einen neuen Sinn gefunden: Wenn sein Sohn am Leben war, dann würde er ihn finden. Und um ihn zu finden, musste er zunächst einmal Sakoljew suchen. Aber was sollte er Valeria erzählen?
Sergej wurde nicht länger von Rachegelüsten getrieben und er war auch nicht mehr davon überzeugt, dass er persönlich alles Übel der Welt beseitigen müsse. Wie Seraphim einmal gesagt hatte, war es nicht seine Aufgabe, Gottes Racheengel zu spielen. Aber er brauchte einen glaubwürdigen Vorwand, um so schnell wie möglich abreisen zu können. Und auf keinen Fall durfte er Hoffnungen wecken, die später möglicherweise enttäuscht werden würden.
Nach einigem Nachdenken kam er zu dem Schluss, dass er Valeria die Wahrheit sagen würde - aber nicht in allen Einzelheiten. Er würde ihr erzählen, dass er Sakoljew und seine Männer suchen würde. Sie würde annehmen, dass er diese bösen Männer daran hindern wollte, noch mehr Unheil anzurichten. Und obwohl sie sich Sorgen um ihn machen würde, so würde dieser Plan doch ihre volle Unterstützung finden.
Und so war es tatsächlich. Als er ihr von seinen
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