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Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
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hochgeschreckt war, hatte nun ein Objekt gefunden, auf das er die in ihm brodelnde Wut richten konnte. Das bedeutete für Gregor, dass er entweder hinaus in die Kälte fliehen musste, bis der Oberst endlich eingeschlafen war, oder dass er wieder einmal verprügelt werden würde. Prügel kam weder selten vor, noch war sie von kurzer Dauer. Wenn der schwere Gürtel des Obersts wieder und wieder auf Gregors schmalen Rücken niederging, sah seine Mutter einfach weg und tat so, als hätte sie dringend irgendetwas sauberzumachen. Noch nie hatte sie die Hand erhoben oder ein Wort gesagt, um Gregor zu verteidigen.
    Der Oberst wankte auf unsicheren Beinen auf Gregor zu und versperrte ihm den Weg nach draußen. »Du kleiner Bastard«, lallte er, »komm und hol dir deine Medizin, du Hundesohn …«
    »Aber ich bin doch dein Sohn, Vater«, antwortete der verschreckte Junge.
    »Das könnte dir so passen«, lallte der Oberst weiter, »Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Wir haben dich aufgenommen, weil dich dein Vater nicht mehr wollte - der Jude, der. Deine Mutter ist weg oder tot, weiß nicht genau …«
    Der Oberst schlang sich den Gürtel um die Hand. »Komm, hol dir deine Tracht Prügel ab. Du fauler Nichtsnutz! Du dreckiger Judenjunge! Ich hätte es wissen müssen, dass du zu nichts taugst. Du bist und bleibst ein jüdischer Taugenichts! Du schuldest uns …«
    Der Oberst kam nicht dazu den Satz zu beenden, denn als Gregor die Worte hörte und auf diese Weise erfuhr, dass er nicht der Sohn des Obersts war, sondern ein verstoßenes Judenkind, fuhr er herum und riss dem Mann mit überraschender Kraft den Gürtel aus der Hand.
    »Lass mich in Ruhe!«, schrie er und stieß seine Faust mit aller Macht immer und immer wieder vor, bis er etwas Nasses auf den Knöcheln fühlte. Er riss die Augen auf und sah, dass er das Schnitzmesser in der Hand hielt und dass sein Pflegevater blutüberströmt und mit hervorquellenden Augen zurückstolperte. Dann verlor der Oberst das Gleichgewicht, versuchte sich noch am Tisch festzuhalten, riss einen Stuhl um und schlug mit dem Kopf gegen den gusseisernen Herd. Es gab ein hässliches Knirschen, dann rührte sich der Mann nicht mehr und starrte aus toten Augen gegen die Decke.
    Gregor wandte sich der Frau zu, die er bisher für seine Mutter gehalten hatte. Sie starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an und seufzte einmal beinahe erleichtert auf, bevor sie wie von Sinnen schrie: »O mein Gott, o mein Gott!« Gregor hatte es endlich geschafft, ihre Aufmerksamkeit zu erregen; sie hatte endlich aufgehört zu putzen. Aber während sie sich dem kleinen Jungen zuwandte, der mit Blut an den Händen dastand, fing sie an hysterisch zu schreien: »Du Monster, du hast ihn umgebracht, du Monster!«
    In diesem Augenblick erwachte in Gregor tatsächlich ein Monster. Er sah zu, wie sich die Klinge tief in den Bauch der Frau senkte, wie sie weiterschrie und wie der Schrei messerartig in ihn eindrang. Er sah, wie sich das Messer hob und senkte und das Monster wieder und wieder auf die Frau einstach, bis sie nicht mehr schrie, sondern nur noch wimmerte und dann ganz still war.
    Gregor träumte von einem Feuer, dessen Flammen hoch in den Nachthimmel schlugen und dessen Rauch sich mit dem niederfallenden Schnee vermischte. Nachbarn kamen herbeigeeilt und fanden nichts als rauchende Trümmer. Und sie fanden den kleinen Jungen, der dies alles geträumt hatte, und sie nahmen ihn auf.

13
    B is zur Mitte des Sommers hatte sich Sergej immer nach Norden bewegt. Er ging entlang der östlichen Grenzen des jüdischen Ansiedlungsgebietes, das von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und in dem die Juden gezwungenermaßen leben mussten. In ein paar Wochen würde er westlich von Moskau sein. Er war jetzt mittlerweile neunzehn, hatte langes Haar und einen Bart und niemand hätte in ihm den adretten Jungen erkannt, der aus der Newski-Kadettenanstalt geflohen war. So riskierte er es immer häufiger, sich auf den großen Straßen fortzubewegen und manchmal sogar einen Bauern oder einen reisenden Händler zu bitten, ihn ein Stück weit auf ihren Karren mitzunehmen.
    Während er in der Sommerhitze dahinwanderte, dachte Sergej an das, was ihm sein Großvater erzählt hatte - auch an den versteckten Schatz. Er spürte, dass Großvater Heschel ihm mit der Karte auch seine Liebe und seinen Segen gegeben hatte, die ihn sicher an sein Ziel führen würden.
    Vor zehn Jahren hatte er sich die Karte in allen Einzelheiten eingeprägt. Der

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