Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Socrates - Der friedvolle Krieger

Titel: Socrates - Der friedvolle Krieger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Millman
Vom Netzwerk:
sind die Regeln einfach, aber die Wege des menschlichen Herzens sind unergründlich.
    »Mutter wird nicht mitgehen«, sagte Andreas schließlich, »das weißt du, Anja. Sie hat furchtbare Angst vor dem Wasser. Sie wird niemals das Meer überqueren.« Dann kehrte wieder Stille ein.
    Einige Minuten später tauchte Valeria im Türrahmen auf. »Anja, komm bitte her.« Anja erhob sich und ging mit ihrer Mutter in das angrenzende Zimmer. Die beiden Männer blieben allein zurück.
    Schließlich kehrte Valeria zurück und ihre Stimme ließ keinerlei Zweifel darüber aufkommen, dass sie einen Entschluss gefasst hatte. »Ich werde nicht nach Amerika gehen«, begann sie. »Ich wurde in Russland geboren und ich werde hier sterben. Schließlich liegt hier mein Mann begraben.«
    Ihre Stimme fing an zu zittern, als sie Anjas Hand ergriff und fortfuhr: »Für die Heirat gebe ich euch meinen Segen, aber ich werde euch niemals meinen Segen für eine Übersiedlung nach Amerika geben.« Sie wartete einen Augenblick, bevor sie weitersprach. »Aber ich gebe Anja meine Erlaubnis. Sie muss dorthin gehen, wohin ihr Mann geht.«
    Wieder fiel es ihr schwer weiterzusprechen. »Aber ich habe einen Wunsch, den ihr mir erfüllen werdet, wenn ihr etwas Liebe für mich übrig habt. Gebt mir noch etwas Zeit, meinen Schwiegersohn besser kennen zu lernen.«
    Wie hätte Sergej Valeria diesen Wunsch abschlagen können? Natürlich stimmte er zu, noch ein paar Monate länger zu bleiben. Erst als er dies versprochen hatte, fing Valeria wieder an zu lächeln. Aber es war ein gezwungenes Lächeln, das sie nur aufsetzte, weil sie beschlossen hatte, das Glück ihrer Tochter über ihr eigenes zu stellen.
    Andreas besiegelte die Abmachung mit den Worten: »So sei es dann also«, und umarmte Sergej wie einen Bruder.
    Valeria dachte sofort an die praktischen Einzelheiten der bevorstehenden Hochzeit. »Ihr müsst von Vater Alexej in der Kirche getraut werden, sonst ist die Ehe nicht legal. Dafür brauchst du einen Taufschein, Sergej. Ich nehme an, dass du in der Kadettenanstalt getauft worden bist und dass sie die Dokumente dort aufbewahren. Du solltest dich sofort mit ihnen in Verbindung setzen.«
    Sergej nickte und lächelte, aber innerlich war ihm überhaupt nicht wohl, denn die Erwähnung der Kadettenanstalt hatte eine Flut von schwarzen Gedanken ausgelöst, die er bis jetzt stets erfolgreich verdrängt hatte.
    Bei seiner Flucht hatte er alle seine Papiere mitgenommen, darunter auch den Taufschein. Das würde also kein Problem sein. Aber Valerias Worte erinnerten Sergej schmerzhaft daran, dass er die Anstalt niemals würde kontaktieren können, weil er desertiert war und während seiner Flucht einen anderen Kadetten getötet hatte. Und genau das war ein weiterer Grund, warum er so schnell wie möglich mit Anja nach Amerika wollte.
    Valeria wusste nichts von diesen Dingen und er würde weder ihr noch Andreas jemals etwas davon erzählen. Auch Anja sollte es niemals erfahren.
     
    Die Hochzeit fand sechs Wochen, nachdem Sergej in Sankt Petersburg angekommen war, am 6. November 1891 in einer kleinen Kapelle statt. Es schneite an diesem Herbsttag und die Welt war kalt und schön und alles war gut.
    Als Junge hatte Sergej oft davon geträumt, ein Teil dieser Familie zu sein, und nun war dieser Traum Wirklichkeit geworden. Manchmal wusste Sergej wirklich nicht, ob er träumte oder wachte.
    Später am Nachmittag schworen sie einander noch einmal nach der jüdischen Tradition die Treue. Aber diesmal zu Hause vor Anjas Mutter, Bruder und ein paar jüdischen Freunden. Es war keine formelle Zeremonie mit einem Rabbiner, weil Valeria die nach dem Talmud erforderlichen zehn Zeugen nicht zusammenbringen konnte.
    Als Hochzeitsgeschenk erhielten Sergej und Anja einen alten Bäckerkarren, den Andreas neu gestrichen hatte und der von einem alten, aber zuverlässigen Pferd gezogen wurde. Es war ein wunderbares Geschenk, mit dem sie Ausflüge aufs Land machen konnten.
    Als die Gäste gegangen waren, schickte Valeria die beiden Frischvermählten ebenfalls nach draußen. »Damit ihr euren ersten Spaziergang als Mann und Frau machen könnt«, sagte sie spitzbübisch.
    »Von dieser Tradition habe ich noch nie etwas gehört«, kommentierte Sergej.
    »Sie ist ja auch ganz neu. Nun hinaus mit euch an die frische Luft«, befahl Valeria.
    Gehorsam zogen sich Sergej und Anja ihre dicken Mäntel an und spazierten durch den fallenden Schnee. Alles hatte eine eigenartige Klarheit und Frische

Weitere Kostenlose Bücher