Söhne der Erde 22 - Flug der Verlorenen
beeinflussen, daß es sich bei seinem Gegenüber um den Generalgouverneur der Venus handelte?
Charru betrachtete das schmale, scharfgeschnittene Marsianergesicht. Nein, der Mann sah nicht so aus, als könne ihn irgend etwas so leicht in seiner Objektivität irre machen. Und sein Blick verriet, daß er zumindest nachdachte, daß seine Meinung nicht von vornherein feststand.
»Richtig«, meinte er schließlich. »Der Punkt scheint mir klar genug zu sein, um auf weitere Debatten zu verzichten. Im übrigen kommen die wissenschaftlichen Analysen zum gleichen Ergebnis. Ohne dabei allerdings den betreffenden Personen den Status von Bürgern der Vereinigten Planeten zuzuerkennen. - Das Gutachten, bitte!«
Ein Wissenschaftler verlas monoton einen endlosen, mit Fachausdrücken gespickten Text, von dem die Terraner nur die Hälfte verstanden.
Das Ergebnis allerdings war klar. Die Analyse billigte den Barbaren aus der Welt unter dem Mondstein juristisch den gleichen Status zu wie den jungen Rassen der Erde - und die besaßen keinerlei Rechte. Terra galt zweitausend Jahre nach der Großen Katastrophe immer noch als latente Gefahr und stand außerhalb der Gesetze. Deshalb störte die Vernichtung eines ganzen Planeten durch die Kohlendioxyd-Anreicherung der Atmosphäre das Rechtsempfinden der Marsianer auch nicht im mindesten. Genauso wenig, wie sie damals die gnadenlose Treibjagd auf die Flüchtlinge aus der Mondstein-Welt gestört hatte.
Charru preßte die Lippen zusammen und kämpfte gegen den Zorn, der ihn angesichts der Selbstverständlichkeit packte, mit der dieser kleine, eulenhafte Wissenschaftler da drüben ein ganzes Volk zu Untermenschen stempelte.
Conal Nord reagierte gelassen. Betont langsam erhob er sich von seinem Sitz.
»Ich stelle fest, daß es sich bei den Menschen aus der Mondstein-Welt nicht um eine irdische Rasse handelt«, sagte er.
Der Richter hob die Brauen. »Sie stammen aber zweifelsfrei von irdischen Vorfahren ab.«
»Genauso zweifelsfrei wie Sie und ich«, sagte der Venusier trocken. »Ob ein Volk seit zweitausend oder zweihundert Jahren auf dem Mars lebt, macht prinzipiell keinen Unterschied. Der Mondstein war Bestandteil der Vereinigten Planeten. Wir haben diese Menschen auf den Mars gebracht, wir können sie nicht nachträglich wieder als Erdenbewohner klassifizieren, nur weil es uns opportun erscheint. Da sie weder unter Kriegsrecht fallen noch außerhalb der Rechtsordnung stehen, sind folglich die normalen Strafgesetze anzuwenden.«
»Oder die Ausnahmegesetze für den Fall einer akuten Gefährdung des Staates«, wandte der Richter ein.
»Gesetze, die uns die rechtliche Grundlage für die Vernichtung der Erde geliefert haben.« Conal Nord konnte nicht verhindern, daß seine Stimme einen bitteren Unterton bekam. »Eine mögliche Gefährdung des Staates wird von der Verteidigung bestritten. Liquidierungen aufgrund der Ausnahmegesetze wären schon deshalb illegal, weil die Entwicklung unter dem Mondstein samt allen Erscheinungsformen der Gewalt gezielt von außen manipuliert wurde und daher juristisch irrelevant ist. Beweiskräftig können in diesem Fall nur die vorliegenden Psychogramme meiner Mandanten sein. Und diese Psychogramme werden beweisen, daß die Annahme einer Gefährdung des Staates unsinnig ist. «
Die Geste, mit der Conal Nord die flache Hand auf die entsprechenden Computer-Ausdrucke fallen ließ, wirkte als Schlußpunkt.
Der Richter seufzte leicht. Für knapp zehn Minuten zog er sich mit den beiden Beisitzern zur Beratung zurück, dann betrat er wieder den Raum. Seine Stimme klang genauso kühl und emotionslos wie vorher.
»Beschlossen und verkündet: Das Gericht folgt der Auffassung der Verteidigung und stellt fest, daß auf die sechs Inhaftierten aus der Mondstein-Welt weder das Kriegsrecht noch die Ausnahmegesetze anwendbar sind. Mangels anderer Möglichkeiten muß zwangsläufig das normale Strafrecht in kraft treten. Der Prozeß wird in drei Tagen eröffnet. Noch irgendwelche Fragen und Einwände?«
Conal Nord nickte. »Unter den gegebenen Umständen muß ich die Einstellung des Verfahrens gegen die Angeklagte Katalin von Thorn beantragen, da sie das zwanzigste Lebensjahr noch nicht vollendet hat.«
»Stattgegeben«, sagte der Richter nach einem kurzen Blick auf seine Unterlagen.
Mark Nord atmete tief auf und lächelte.
VII.
Am Abend vor Beginn des Prozesses wurde Charru noch einmal in das Sprechzimmer der Klinik gebracht, wo Conal Nord auf ihn wartete.
Die
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