Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
Cassian. Wie du dich verwandelst.«
»Lieber nicht, beim letzten Mal hattest du Angst vor mir.«
»Hatte ich nicht«, behauptete sie. »Ich muss dich nicht fürchten und den Wolf in dir ganz sicher auch nicht, oder?«
»Du willst ihn also kennen lernen, den Wolf in mir?«
Sie nickte unter seinem forschenden Blick.
»Du weißt, wie du dich einem Wolf gegenüber verhalten musst?«
Wie hätte sie in Paris jemals einem Wolf begegnen sollen? »Ruhig?«
»Keine abrupten Bewegungen, nicht laut und schrill werden. Und egal, was geschieht, komm nicht auf die Idee, weglaufen zu wollen. Du würdest die Tür nicht erreichen und meinen Jagdtrieb wecken.«
Sie öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu, nachdem sie einen Atemzug gemacht hatte. Natürlich würde sie seinen Rat beherzigen, obgleich sie seinen Ernst für übertrieben hielt. Schließlich blieb Cassian er selbst. Er schien ihre Überlegung zu erraten.
»Der Wolf ist in mir, aber sobald ich ihn herauslasse, übernimmt er die Führung und lässt sich nur bedingt steuern. Gegen seine Instinkte komme ich nicht an. Du darfst sie nicht über Gebühr schüren.«
Er erhob sich und trat hinter ein Kanapee am anderen Ende des Raumes. Dort duckte er sich hinter die Rückenlehne, und sie reckte den Hals, ohne etwas sehen zu können.
»Was machst du da?«
»Noch einen Moment«, kam es gedämpft und irgendwie erstickt.
Vielleicht war ihm schlecht geworden nach seiner seltsamen Mahlzeit, aber es half wenig, in der Deckung eines Kanapees seiner Übelkeit beizukommen. Dazu wäre das offene Fenster geeigneter. Ob es ihn beschämen würde, wenn sie nachsehen ging? Die Luft im Raum verdichtete sich. Druck legte sich auf ihre Ohren, und sie wurde ihn nicht los, obwohl sie fest an ihren Ohrläppchen zupfte. Es gab ein Geräusch, als würde der letzte Rest an Luft angesaugt. Dann war alles wie zuvor, der Druck gewichen und Cassian kauerte noch immer hinter dem Kanapee und kämpfte mit einem verdorbenen Magen.
»Cassian, komm zurück ins Bett. Du solltest dich hinlegen und …«
Eine Schnauze schob sich hinter der Lehne hervor. Der Unterkiefer von einer cremigen Vanillefarbe, die Nase glänzend schwarz und von honigbraunem Fell umgeben. Der Kopf folgte, noch mehr honigbraun und eine rosige Zunge, die sich wie Pastetenteig einrollte. Der Wolf schien ihr zuzulächeln.
»Oh«, entfuhr es ihr. Sie zog die Decke zu ihren Schultern hinauf. »Du bist ziemlich groß.«
Cassian stellte die Ohren auf und legte den Kopf schief. An seinen Augen war er zu erkennen, obwohl sie etwas schräger standen und durch sein dunkles Fell heller wirkten. Allerdings taxierte er sie mit einem Blick, der sie zu einer Fremden abstempelte. Seine Nasenlöcher blähten sich. Abrupt schüttelte er den Kopf. Seinem Niesen folgte ein Brummen tief aus der Kehle. Sie verzichtete nicht nur auf schnelle Bewegungen, sie hielt es sogar für klug, sich überhaupt nicht zu bewegen. Der Wolf kam hinter dem Kanapee hervor, ein Tier von gewaltiger Größe und mit seidigem Fell.
Er bewegte sich langsam in die Mitte des Zimmers, blieb dort stehen und ließ sich bewundern. An der Bereitschaft dazu fehlte es ihr nicht, ihr wurde in diesem Augenblick aber leider zu deutlich bewusst, dass sie sich nicht mit Cassian, sondern einem riesigen, wilden Tier in einem geschlossenen Raum befand. Weder die Tür noch das Fenster waren zu erreichen, und selbst ein Hilfeschrei könnte das Blatt zwischen ihnen wenden. Hitze rieselte an ihrem Rückgrat nach unten. Der Wolf ging vor dem Bett von links nach rechts, und mit jedem Schlenker kam er näher. Ohne ein Rudel, das ihn unterstützte, schien das seine Art des Einkreisens zu sein. Es war keine Erkenntnis, die sie beruhigte. Sie behielt seine langen Beine im Auge, musterte die dicken Pfoten, die schwarzen Krallen, die auf den Teppich trafen, den langen, buschigen Schweif, der schräg nach oben stand. Vergeblich erhoffte sie sich ein Wedeln, das ihr die Angst nahm.
Cassian hatte ihr abrupte Bewegungen untersagt und den Hinweis vergessen, dass der Wolf in ihm sich nicht an dieses Gebot gebunden fühlte. Jäh machte er einen Satz auf sie zu und landete geschmeidig auf dem Bett. Im letzten Moment unterdrückte sie einen Aufschrei. Sie war zwischen vier Pfoten gefangen, einen breiten Brustkorb dicht vor Augen. Zu allem Übel schnellte die rosige Wolfszunge hervor und leckte über die lange Schnauze. Die Mär von dem Mädchen, das einem Wolf im Wald begegnete, kam Florine in den Sinn. An das
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