Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
der roten Wölfe maß sein einstiges Mündel ab, als habe er es noch nie zuvor gesehen. Schließlich senkte er den Kopf, geleitet von einem lange zurückliegenden Schwur. Seine Einsicht hielt nicht lange an. Er straffte die Schultern und blaffte in üblicher Manier seine Männer an.
„Öffnet alle Fenster und Türen. Ich will nichts wittern von einem fremden Alphawolf in meinem Hort! Du bist hier nicht länger erwünscht, Garou.“
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um ersten Mal war Aurora außerhalb der Mauern von Rom. Der Tiber zog ein breites Band durch die Landschaft. Sie wäre am liebsten immer weiter gelaufen, dem Verlauf des Flusses gefolgt bis an das Meer. Sie atmete die Weite ein, die klare, kalte Winterluft und bereute es nicht, Berenike zu einem Ausflug vor die Stadt gefolgt zu sein. Der Hügel, den sie aufgesucht hatten, war karg bis auf einige verkrüppelte Steineichen, und sie hatte beinahe vergessen, weshalb sie hierhergekommen waren. Erst die Armbrust erinnerte sie daran. Berenike hatte Fragen über das Hexenfeuer gestellt und sie zu einer Übung eingeladen. Die Waffe war eine Spezialanfertigung und wirkte wie ein Kinderspielzeug, obwohl Berenike betont hatte, dass sie damit scharf schießen konnten.
„Ich war sieben, als meine Mutter sie mir zum Geschenk machte. Die erste Waffe, mit der ich übte, und mir die liebste. Präziser als eine Pistole und von ähnlicher Durchschlagkraft. Nicht unbedingt diese hier, dazu ist sie zu klein.“
Aurora folgte der Erklärung mit halbem Ohr, während ihre restlichen Sinne sich auf das Land richteten und den Himmel darüber. Gleichzeitig weilten ihre Gedanken im Palazzo ihres Vormundes. Sie hatte sich in einer Auseinandersetzung mit Tizzio durchgesetzt. Die Worte waren ihr schier zugeflogen, ebenso die Ohrfeige, die sie ihm gegeben hatte. Sie hatte Respekt eingefordert und ihn erhalten. Leider war sie schnell wieder auf Normalgröße geschrumpft und nichts war ihr zugeflogen, als Tizzio Ruben aus seinem Haus gewiesen hatte. Dabei hatte er darauf beharrt, dass Aurora blieb, da nur sein Palazzo ihr ausreichend Sicherheit bieten konnte. Berenike hatte der lautstarken Auseinandersetzung der beiden Alphawölfe ein Ende gesetzt, indem sie vorschlug, Aurora mitzunehmen, auf den neutralen Boden des Aventin und in Selenes Villa. Das wollten beide nicht zulassen, und so war der Kompromiss ein Gartenhäuschen, das sie mit Ruben bezog.
Ein schnell aufgeschlagenes Bett beanspruchte den meisten Platz. Ihre Kleider und Habseligkeiten verstopften den Rest des Raumes. Obwohl es keine Möglichkeit gab, ein Feuer zu entfachen, war es ein heimeliges Nest, das ganz und gar ihnen gehörte. Die Enge machte daraus eine Wolfshöhle, und sobald sie unter die Decken schlüpften, wurde es warm. Aurora brauchte keinen Kamin, sie brannte in Liebe und Leidenschaft der Nächte mit Ruben. Sie vergruben sich im Bett und kamen im Verborgenen zueinander wie ein heimliches Liebespaar, das sich vor den Argusaugen anderer verstecken musste. Im Gegensatz dazu waren die Tage nüchtern. Um Tizzio nicht gegen sich aufzubringen, stromerte Ruben durch Rom und kehrte erst spät am Abend zurück, während sie sich in der Küche des Palazzos aufwärmte und den Frauen zur Hand ging. Manchmal fühlte sie sich beobachtet, und wenn sie den Kopf hob, sich umdrehte, ruhten Tizzios Augen auf ihr. In klarem Braun und lauernd. Sie erzählte Ruben nichts davon, um keinen Zwist heraufzubeschwören. Im Kampf gegen die Larvae brauchte sie jede Unterstützung, zumal sie keine Ahnung hatte, wie sie diesen Kampf austragen sollte.
Berenike spannte einen Pfeil ein und überreichte ihr die Armbrust.
„Die linke Hand stützt unten und löst den Abzug. Die rechte stabilisiert hier vorne. Das ist das Visier. Sieh hindurch, visiere die Steineiche, die uns am nächsten steht. Ein großes, unbewegliches Ziel, das leicht zu treffen ist. Konzentriere dich darauf. Fokussiere.“
Ein Auge zugekniffen, spähte Aurora an der Armbrust entlang durch das Visier. Der Baum war in sich verdreht und hatte es aufgegeben, seine Äste gen Himmel zu recken.
„Halte die Armbrust still und atme ruhig weiter“, leitete Berenike sie in dem einlullenden Singsang einer Lamia an. „Lasse deinen Atem in den Pfeil fließen. Er gehört zu dir. Du bist der Pfeil und kennst dein Ziel. Nichts anderes zählt. Ja, so ist es gut.“
Den Atem in den Pfeil fließen lassen. War das so etwas Ähnliches wie ihren Geist mit der allgewaltigen Mutter Erde zu verwurzeln? Anscheinend
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