Söhne der Luna 2 - Die Braut des Wolfes
Gesicht und bar jeder Zartheit, die sie in seinem Kuss geschmeckt hatte. Wortlos überreichte sie ihm seine Jacke. Ebenso still schlüpfte er hinein und ging ihr voran auf die Treppe zu. Sollte es so enden? In Schweigen? Die Kluft zwischen ihnen wurde immer größer. Aurora wollte es nicht zulassen.
„Tizzio sagte, dass deine Sippe dem ersten Wurf der Luna entspringt. Früher hat er viele Geschichten aus euren Chroniken erzählt, aber nichts über einen Wurf.“
„Luna hat ihre Söhne und Töchter in Gestalt der Wölfin geboren. Es heißt in unseren Chroniken, sie sei die Tochter eines Kriegers gewesen, der gegen die Vampire kämpfte und die erste, die sich verwandeln konnte. Zuvor waren es lediglich Männer und Frauen, die sich in Pelze hüllten, wenn sie gegen die Vampire in die Schlacht zogen. Luna war die erste, deren Alter weit über ein Menschenalter hinausging. Über zweihundert Jahre hinweg gebar sie vier Würfe. Es waren Mehrfachgeburten. Der erste Wurf soll angeblich der stärkste gewesen sein. Vier Jungen und ein Mädchen. Dieses Mädchen ist die Ahnin der Garou. Ihr Name war Alba. In Gedenken an unsere Abstammung erhielt meine Schwester diesen Namen.“
Bei der Erwähnung seiner Schwester klangen ihre Schritte auf den Treppenstufen seltsam hohl. „Alphawölfinnen sind sehr selten“, merkte sie an.
„Sie sind nahezu ausgestorben. Meine Schwester und meine Mutter waren die letzten des ersten Wurfs.“
Mehr musste er nicht sagen. Beide lebten nicht mehr. „Sind sie im Kampf gestorben?“
„Nein. Alba wurde von meinem Vater erschossen. Und meine Mutter starb im Kampf gegen das schwarze Loch, in das der Tod ihrer eigenen Tochter sie stieß.“
Aurora klappte den Mund zu und sagte nichts mehr. Sein Tonfall verbot weitere Fragen. Sie schwirrten hinter ihrer Stirn. Weshalb erschoss ein Vater sein eigenes Kind und brachte Leid über sich und seine Familie?
Sie gelangten im Kirchenschiff an. Die Frühmesse war beendet und jemand hatte die Asche vom Boden gekehrt und das Taufbecken zur Seite geräumt. Gewiss hatten das geborstene Portal und die Wasserlachen am Boden die Gläubigen aus dem Gleichgewicht gebracht. Dort wo das Taufbecken umgestürzt war, hatte es einen langen Riss im Marmor hinterlassen. Eilig durchquerten sie die Kirche und traten ins Freie. Im Laufschritt machten sie sich auf den Heimweg. Die ersten Geschäfte öffneten ihre Läden. Besen zischten über das Pflaster, Milchkannen schepperten, Knechte und Mägde huschten an ihnen vorüber, die Gesichter noch verquollen vom Schlaf. Über allem war das Rumpeln von Karren zu hören. Die Bauern der Umgebung fuhren ihre Waren auf die Märkte. Aurora entging nicht, dass Ruben Abstand zu ihr hielt. Mehr und mehr nagte sein Verhalten an ihr. Sie konnte es nicht für sich behalten.
„Eine Hexe ist für viele das personifizierte Böse“, sagte sie leise, damit niemand sonst sie hörte. „Ich weiß, dass wir gefürchtet werden, und dafür gibt es hin und wieder gute Gründe. Seuchen ziehen spurlos an uns vorüber. Wir tauchen unsere Hände in Unrat und heben Gold hervor. Und den Strega wird nachgesagt, ihr Blick bringe Unglück für jeden, der davon getroffen wird. Die Menschen wollen uns brennen sehen, Vampire wie Lamia gehen uns aus dem Weg. Wir erregen Argwohn. Aber ich gehöre nicht zu denjenigen, die ihre Macht missbrauchen. Weil ich nämlich keine Macht habe. Selbst wenn ich sie hätte, würde ich sie nicht … würde ich nicht …“
„Aurora, ich teile den Aberglauben der Menschen über Hexen nicht. Und ich weiß auch nicht, was du mir erklären willst, denn eines steht fest: In eurer Nähe ist es bestimmt noch nicht zu blutleeren Toten gekommen.“
„Das stimmt wohl“, murmelte sie und gab auf. Ruben folgte seinen Instinkten. Selbst die roten Wölfe wären diesem gefolgt, hätte einer nicht das Glück oder im Nachhinein wohl eher das Pech gehabt, einem Braglia zu begegnen. Dieser hatte ihn vor aufgebrachten Bauern versteckt, seine Wunden versorgt und dafür einen Schwur erhalten. Seitdem schützten die roten Wölfe die Braglia und vertuschten ihre wahre Herkunft, wo immer es ging. Bis zur Entstehung der Larvae war es eine für beide Seiten nützliche Bindung. Danach war es ihnen allen über den Kopf gewachsen. Verständlich, dass Tizzio sie hatte loswerden wollen. Er hatte den ungefährlichsten Weg gewählt, um sich und seine Sippe zu erhalten.
Daran dachte sie, als Tizzio ihnen in der Eingangshalle seines Palazzo entgegentrat.
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