Soehne des Lichts
wieder nach oben, ins Licht von Sonne und Mond, zu Wind und Regen, endlose Weiten. Die schweren Gerüche an der Oberwelt belasteten sie nicht mehr wie früher, bei ihren ersten Ausflügen aus den heimatlichen Tunneln und Höhlen. Inzwischen konnte sie die vielfältigen Düfte sogar genießen und lernte mit jedem Mal besser, sie zu unterscheiden. Die feinen Nasen der Nola waren schnell überfordert. In ihren unterirdischen Welten gab es nicht solch eine Unzahl verschiedenartiger Gerüche, sondern eher feine Nuancen, die für ihre Orientierung wichtig waren. Kaum ein Nola, der an der Oberfläche nicht völlig verwirrt und damit fast bewegungsunfähig wurde.
Avanya ging zum nahen Fluss, um sich flüchtig zu waschen. Inmitten der jungen Buchen, die das umliegende Land zum größten Teil bedeckten, fühlte sie sich gut getarnt gegen alle feindlichen Blicke. Schnell bändigte sie ihre bernsteinfarbenen, fußknöchellangen Zöpfe mit einigen Lederschnüren. Dabei bemerkte sie die Felsen im Wasser, die wie Trittsteine bis zum anderen Ufer lagen. Da drüben war das Unterholz licht, ohne Mühe konnte man den von Kiefern und Fichten bewachsenen Hügel bewältigen, der mehrere hundert Schritt in die Höhe ragte,. Dort oben könnte sie noch einmal über das Land schauen, bevor sie zurück in die Höhlen und Tunnel ihres Volkes gehen musste. Noch einmal die Weiten in sich aufnehmen, die von den meisten Nola gefürchtet, von ihr hingegen geliebt wurden.
Übermütig eilte Avanya den Hügel hinauf, kauerte sich auf einem moosbewachsenen Findling zusammen, um für mögliche Feinde unsichtbar zu bleiben und sah in die Ferne. Nebliger Morgendunst hing über den Wäldern, die Blätter wurden von der aufgehenden Sonne golden erleuchtet. Es war wundervoll, hier zu sein.
Es war wundervoll, dass schon seit sechs Tagen Frieden herrschte.
Avanya genoss ein wenig die Stille des Morgens, die klärende Frische, dann wandte sie sich ab. Sie hatte keine Spuren von Trollen gefunden, also gab es keinen Grund, ihre Mutter noch länger zu beunruhigen. Die Tunneltrolle verheerten regelmäßig die unterirdischen Städte der Nola. Sie hatten wenig eigene Kultur, betrieben weder Jagd noch Ackerbau noch suchten sie die Früchte des Waldes. Stattdessen raubten sie die Vorräte der Nola, ihre einzigen wirklichen Feinde. Es war ein Krieg, der fast nie ruhte. Beim letzten großen Gefecht hatten die Nola den Kampf in die Lager und Schlupfwinkel der Chyrsk getragen, mit so viel vernichtender Gewalt, dass seitdem Ruhe herrschte.
Rasch drängte Avanya die Erinnerungen zurück, die in ihr aufwallten. Die Schreie der sterbenden Trolle, das Blut, all das Blut, überall nur Tod und Schmerz, Verzweiflung und Verlust ... Sie war schon zu lange Kriegerin, um sich davon überwältigen zu lassen.
Seufzend riss sie sich von dem wunderschönen Anblick los und kehrte zurück auf die andere Seite des Flusses. Bedächtig näherte sie sich dem verborgenen Eingang zum Tunnel, der sie nach Hause führen würde, immer auf der Hut vor Beobachtern. Plötzlich zuckte sie zusammen, als sich der Anhänger aus ungeschliffenem Bergkristall um ihren Hals erhitzte.
„Mutter!“, flüsterte sie erschrocken. Das war ein Zeichen, das mehr bedeutete als Verärgerung, weil Avanya wieder zu viel Zeit bei ihrem Aufklärungsgang vertrödelt hatte. Rasch drückte sie die Vertiefungen in dem so natürlich wirkenden Gesteinsbrocken. Der Fels wurde durchsichtig, Avanya trat hindurch und verschloss das Tor von der anderen Seite. Schon rannte sie los, mit großen Sprüngen.
In ihrer Eile hörte sie nichts von den tiefen, grollenden Lauten der beiden Trolle, die das Kommen und Gehen der Nalla beobachtet hatten.
„Nalla blind!“ Sie frohlockten, als sie die Bewegungen der kleinen Kriegerin nachahmten und damit das Tor öffneten. „Nalla blind und taub.“
Die Trolle verschlossen den Zugang und kehrten zurück zu ihren Stamm. Die große Mutter würde mit ihnen zufrieden sein.
Als Avanya durch das letzte Tor stürmte, das die Wohnhöhlen ihres Clans schützte, wurde sie bereits ungeduldig erwartet.
„Rasch, Ionnon hat nach dir gerufen! Du musst sofort los, nun komm doch!“, rief Yrda, ihre Schwester.
„Nur mich?“
„Ja, mach schnell!“
Mit einem kurzen Nicken griff Avanya nach ihrem Schwert. Der Führer aller Clans rief nicht, wenn es nicht wichtig war, und eine Kriegerin wurde zu keinem anderen Zweck gerufen, als zu kämpfen. Ihre Mutter hielt bereits einen Rucksack mit
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