Soehne des Lichts
dich, Mädchen, es war ein langer Tag. Ich habe meine Zofen in die Küche geschickt, damit sie für die morgigen Feierlichkeiten helfen, also wirst du mir jetzt aufwarten.“ Die Königin drückte Inani in einen hohen Lehnstuhl. Noch nie hatte sie Rosanna in solch einem Zustand erlebt: Die langen Haare wirr und offen statt kunstvoll aufgesteckt, das graue Überkleid der Trauerfeier lag auf dem Boden, während die sonst so würdevolle Frau im Untergewand herumlief. Rosanna schloss die Vorhänge, horchte kurz an den Türen und setzte sich ganz dicht an Inani heran.
„Du weißt so gut wie ich, dass hier alle Wände Augen und Ohren haben. Kämme mein Haar und hilf mir gleich in ein neues Kleid hinein, wir unterhalten uns dabei mit deiner Kraft auf geistigem Weg. Du kannst das, nicht wahr?“, wisperte sie. Verwirrt und misstrauisch ergriff Inani eine Bürste vom Tisch und begann, Rosannas weißes Haar zu glätten. „Ich weiß nicht, was Ihr meint, Majestät“, flüsterte sie dabei ebenso leise.
„Natürlich weißt du das. Ich habe denselben Geburtstag wie du, Inani, aber mich hat man bei der Prüfung abgelehnt und zurück ins Licht geschickt. Kennst du Balinda? Sie war meine Mutter.“
„Ja, sie ist eine meiner Ausbilderinnen gewesen“, gab Inani verblüfft zurück. „Sie hat uns nie erzählt, dass sie eine Tochter gehabt hat.“
„Natürlich nicht. Aus mir ist schließlich keine Hexe geworden“, flüsterte die Königin mit traurigem Lächeln. „Nichtsdestotrotz, ich besitze ein wenig Magie, auch wenn Pyas Gaben bei mir nicht ausgebildet wurden. Nun komm, sprich auf dem anderen Weg zu mir, wir werden von allen Seiten beobachtet!“
Inani überlegte fieberhaft, es gab keinen Grund, an der Königin zu zweifeln. Sollte Rosanna vorhaben, sie bei den Priestern anzuzeigen, brauchte sie dafür keinen Beweis von Inanis Kräften, ihr Wort allein wäre schon genug. Und Balinda war, soweit sie wusste, niemals in Roen Orm gewesen, woher sollte die Königin sie kennen? Vielleicht wusste die Ausbilderin gar nicht, was aus ihrer einstigen Ziehtochter geworden war? Es faszinierte sie, dass Balinda wie eine junge Frau aussah, während die Königin zwar schön, doch deutlich betagt war, mit weißem Haar und tiefen Falten um Augen und Mundwinkel. Inani riss sich zusammen. Selbstverständlich war Balinda jung geblieben, sie war schließlich eine Hexe und ihre Lebensaufgabe noch nicht erfüllt.
„Es erstaunt mich nicht, wie hoch eine Tochter des Lichts aufsteigen konnte, bis zum zweiten Thron dieser Stadt. Warum hat man mir nie davon erzählt?“, fragte sie. Sie ärgerte sich, die offensichtlichen Zeichen übersehen zu haben.
„Zu meinem eigenen Schutz wie auch dem der Hexen am Hofe wusste nie jemand von mir, abgesehen von Kythara, Balinda, mir selbst und jetzt du. Gewiss, es gibt einige Hexen, die das Richtige über mich vermuten. Ich habe euch aus dem Hintergrund beschützt. Du weißt, es sind oft genug junge Mädchen, noch lange nicht fertig ausgebildet, die hierher geschickt werden. Hätten sie gewusst, was ich bin, hätten sie sich anders verhalten und wären dadurch aufgefallen. Und, zu meinem Aufstieg – ich bin ein Nichts! Ob Königin oder Küchenmagd von Roen Orm, was sind wir schon? Ich war das Schmuckstück eines Königs!“ Rosanna lachte bitter in Inanis Geist. „Oh, ich habe ihn geliebt, in meiner Jugend … Bis er mir meine Söhne gestohlen hat mit seiner Hartherzigkeit, seinem Festklammern an
Traditionen, die niemals von Nutzen waren.“
Inani rührte sich unwillkürlich, aber Rosanna winkte ungeduldig ab.
„Ein einfaches Rosenmuster, das reicht für den heutigen Abend“, sprach sie laut und wies auf ihr Haar. Inani begann folgsam zu flechten, während sie weiterhin der Stimme der Königin in ihrem Inneren lauschte: „Ich weiß, dass Thamar lebt und was du für ihn alles getan hast. Glaube mir, für Garnith‘ Tod liebe ich dich wie meine eigene Tochter. Doch ich selbst konnte den Jungen nicht beschützen, keine noch so raffinierte Intrige war wirksam, um ihn zu befreien oder wenigstens von seinen Qualen zu erlösen, denn die Hexen, die damals hier waren, konnten nicht zu ihm gelangen. Zu stark war der magische Schutz des Priesters; keiner der Soldaten, Wächter oder Dienstboten war mir loyal genug ergeben … Ich wusste, dass mein Kind zu Tode gefoltert wurde, so lange, so furchtbar, und konnte ihm nicht helfen.“
Inani sah eine Träne über Rosannas Wange rollen und rief rasch laut: „Verzeiht
Weitere Kostenlose Bücher