Soehne des Lichts
schreie. Ich wusste, er würde nicht aufhören, bevor ich tot bin, also hab ich mich ohnmächtig gestellt. Er ließ von mir ab, wollte sich vergewissern, ob ich noch lebe. Da konnte ich seine Kehle zertrümmern.“ Sie wies auf ihre schweren Lederstiefel. „Ein Jammer, ich hätte ihn gerne langsam sterben sein. Leiden. Ich hätte warten sollen, bis Fanven ihn erwischt!“, flüsterte sie. Niyam wünschte, es läge wenigstens Hass in ihrer Stimme, oder Bedauern. Irgendetwas anderes als diese tonlose Gleichgültigkeit. „Ich hätte gewartet, aber ich konnte dich sehen. Sehen, dass du noch lebst. Ich musste ihn schnell töten.“
Noch mehr Schuld. Er hatte sie um den Genuss der langsamen Rache gebracht. Zu viel Schuld.
Flügelschwirren, eine leichte Erschütterung, als Fanven neben ihnen landete. Der unterdrückte Schrei des Entsetzens.
Niyam wollte etwas sagen. Seinen Freund bitten, ihn zu erschlagen. Er verdiente nicht zu leben mit all dieser Schuld! Niyam versucht es mit aller Kraft. Doch nur ein kraftloses Stöhnen kam über seine Lippen, und dann wurde alles dunkel und still.
Niyam verhielt seufzend im Schritt. Sie hatten ihn nach Hause gebracht, seine Wunden versorgt, ihn gerettet. Es hatte Tage gedauert, bis er das Bewusstsein wieder erlangte und erkennen musste, dass der Tod wohl eine zu gnädige Strafe war, die er nicht verdient hatte. Fanven hatte ihm gedankt, weil er sein Leben riskiert hatte, um Roya zu helfen. Laremo, der Sippenführer, hatte ihn einen guten Krieger genannt. Roya hatte ihn vor der Sippe für seinen Mut gerühmt. Aber er sah die stumme Anklage in den Blicken und freundlichen Worten der anderen. Es waren doch nur Menschen gewesen, nichts weiter als schwache Menschen! Er hätte es mit zwei von ihnen jederzeit aufnehmen
können müssen. Schließlich hatte er die Gefahr gespürt, gewusst, dass Feinde um ihn waren! Es lag keine Schande darin, dass Roya ihren Peiniger selbst getötet hatte, Loy-Frauen waren ebenso im Kampf geschult wie die männlichen Krieger. Die Schande war sein Versagen, den zweiten Feind rechtzeitig aufzuspüren und sich von diesem Menschenmann beinahe töten zu lassen. Royas Schreie verfolgten ihn in seinen Träumen, er hatte keine Ruhe mehr gefunden. Sobald er endlich genesen war, verabschiedete er sich von der Sippe und zog fort, um allem zu entgehen. Royas toten Augen, Fanvens Verzweiflung, den stillen Hilferufen von Misham, Royas Sohn. Eigentlich hatte Niyam den Tod gesucht. Wie er nach Roen Orm gelangt war, wusste er selbst nicht. Doch in der faszinierendsten Stadt der Menschen durfte er viele Dinge lernen, die er niemals zuvor auch nur geahnt hatte, und er hörte Hinweise auf den Larcima, den verlorenen Gedankenstein des Volkes der Loy.
Niyam ging langsam weiter. Schon bald würden die ersten Wächter ihn entdecken und aufhalten. Er konnte die Warnzeichen sehen, die fremden Loygruppen zeigten, dass sie sich im innersten Gebiet einer Sippe befanden. Von hier ab konnten sie nicht mehr umkehren, sie mussten sich den Wächtern stellen und entweder mit ihnen kämpfen oder sich vor dem Sippenführer erklären.
Ob Laremo noch der Führer war?
Was würden seine Leute dazu sagen, dass er weder gestorben noch einfach sinnlos durch Enra geirrt war, sondern den Larcima gesucht hatte? Jenen heiligen Stein, in dem die Alten die Geheimnisse ihres Volkes verborgen hatten. Er war ein Mythos, kaum jemand glaubte noch, dass es ihn wirklich gab. Aber Niyam hatte Zeichnungen gefunden, die ihn zu den Tunneln der Nola geführt hatten, Fragmente in Erzählungen und Büchern, die den Stein erwähnten. Er mochte zerstört worden sein, verschüttet, vielleicht sogar von den Nola gestohlen. Niyam hatte es niemals herausgefunden. Bloß eines war gewiss, irgendwann hatte es diesen Stein gegeben, daran glaubte er fest.
„Halt! Keine Bewegung, oder es war deine letzte!“
Niyam blieb ruhig stehen. Er hatte die Anwesenheit des Wächters hinter sich gespürt, hätte leicht ausweichen oder angreifen können, doch das wollte er nicht. Die Schwertklinge in seinem Nacken kümmerte ihn nicht weiter, er hatte die Stimme des Wächters erkannt.
„Wer bist du? Einer der Falken?“, zischte der Krieger hinter ihm.
„Bist du blind geworden, Ravul? Sehe ich wirklich wie ein jämmerlicher Falken-Loy aus?“, fragte er vorwurfsvoll.
„Niyam?“ Die Klinge verschwand, und nur einen Moment später stand sein Bruder vor ihm. Starrte ihn an. Misstrauisch zuerst, dann ungläubig, und zuletzt mit
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