Soehne & Liebe der Nacht
versprach sie. Dann lief Lara die Treppe hinunter durch die Diele und mit einem kämpferischen Gefühl zog sie die schwere Eichentür hinter sich zu.
18
Besorgt sah Thomas aus dem offenen Wohnzimmerfenster in die Dunkelheit. Unheilvoll leuchtete der kugelförmige Mond durch die Wolken, die dunkel aufgezogen waren, und verursachte in ihm ein ungutes Ruhe-vor-dem-Sturm-Gefühl. Hoffnung schenkte ihm der Mann am Hotelfenster gegenüber. Gabriel war einer von Millionen Avataren, die auf der Erde lebten, um die Söhne der Nacht zu vernichten, die jede Nacht brutal über die Menschheit herfielen. Es war ein Kreislauf aus Blut und Rache, den es zu durchbrechen galt. Ein flaues Gefühl machte sich in Thomas’ Magengegend bemerkbar. Das Gedankenkarussell in seinem Kopf verursachte ein leichtes Schwindelgefühl in ihm. Thomas schloss die Augen. Ließ sich der Kreislauf des Tötens wirklich beenden? Selbst wenn das Wunder geschah und Cara Ewan retten konnte und er im Licht der Liebe auferstand statt im Blut des Todes einer Auserwählten, waren da noch immer seine Söhne, für die das Blut der Menschheit das Lebenselixier war. Cara hatte einen Plan geschmiedet: sie hoffte, ihren Vater mit einem Kompromiss auf beiden Seiten zu besänftigen. Ihr Vater sollte sich bereiterklären, Ewans Söhnen die Menschheit zu überlassen. Die Söhne der Nacht sollten sich verpflichten, keine Auserwählten mehr zu töten. Durfte für Ewans Auferstehung nur das Blut einer Auserwählten fließen, die mit dem Dolch der Auferstehung getötet wurde, so töteten seine anderen Söhne die Auserwählten
nur aus Rache an Kairon, der ihren Schöpfer in die Unterwelt verbannt hatte. Würde Caras Vater diesem Plan zustimmen? Kairon fühlte sich verantwortlich für diesen Planeten und dessen Menschheit, war er es doch, der Ewan verbannt und die blutige Tragödie ausgelöst hatte. Kairon hatte die Avatare erschaffen, um die Menschen dieser Erde zu retten. Würde er zustimmen, sie Ewans Söhnen zu überlassen, wenn sie seine Auserwählten verschonten? Noch einmal warf Thomas einen Blick auf den Mond am Himmel, verzweifelt fuhr er sich durch sein blondes Haar.
„Der Gott dieser Welt steh uns bei“, stöhnte er.
19
Nachdenklich stand Gabriel am geöffneten Fenster und atmete die Abendluft ein, als könnte sie ihm Erleuchtung schenken. Vor drei Monaten hatte er einen anonymen Anruf bekommen. Ein Mann hatte ihn eindringlich gebeten, in diese Stadt zu kommen und die Söhne der Nacht aufzuhalten, die eine neue Auferstehung ihres Schöpfers planten. Der Anrufer wusste von den dunklen Söhnen und dass er ein Avatar war, also hatte Gabriel keinen Grund gesehen, an den Worten des Anrufers zu zweifeln. Auch wenn der Mann am Telefon seinen Namen nicht genannt hatte. Bis jetzt hatte Gabriel keine Anzeichen dafür gefunden, dass eine Auferstehung des Schöpfers bevorstand. Jeden Abend telefonierte er mit Maria, um sich zu vergewissern, dass der Dolch der Auferstehung sich nach wie vor in Sicherheit befand. Heute hatte Gabriel Maria noch nicht erreichen können, er nahm sich vor, sie heute Abend persönlich aufzusuchen. Maria war schon früher immer bis Mitternacht in der Universität geblieben. Und sie war nicht die einzige Frau, der Gabriel einen Besuch schuldete.
Gabriel hörte das Schlagen der Rathausuhr, es war dreiundzwanzig Uhr geworden. Gnadenlos hielt die Zeit ihm vor Augen, dass er wieder ein Feigling gewesen war. Den ganzen Tag hatte er mit sich gerungen, endlich Großmutter Melinda aufzusuchen, und wieder hatte ihn sein Mut verlassen. Aber Gabriel konnte sich nicht ewig in diesem Zimmer verstecken wie ein Feigling. Er
musste der Frau in die Augen sehen, die er vor zwanzig Jahren zutiefst enttäuscht hatte.
Gabriel löste seinen Blick vom unheilvollen Mond am Himmel und hoffte, dass er kein böses Omen war. Er entschied sich, eine kalte Dusche zu nehmen. Hastig legte er seine Kleidung ab und öffnete den Wasserhahn. Das kalte Wasser traf ihn wie ein Wolkenbruch aus Tränen, die er die letzten zwanzig Jahre geweint hatte. Gabriel wünschte sich, die Erinnerung an das Gestern wäre so vergänglich wie das Wasser, das über seinen Körper lief und durch den Abfluss ins Nirgendwo verschwand. Aber sein Gestern war auch sein Heute und er musste sich seinen Dämonen stellen. Morgen würde er Großmutter Melinda gegenübertreten und die Worte sagen, die er vor zwanzig Jahren nicht gefunden hatte.
Gabriel griff nach einem Handtuch, um sich die verbliebenen
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