Söhne und Töchter des Feuers, Band Eins: Verbrannte Hoffnung (German Edition)
teilweise sogar herausgeschnitten. Lithan schüttelt fassungslos den Kopf.
Er kann nicht glauben, dass Yuthian seine eigenen, ohne Frage sehr alten Bücher verstümmelt, nur um sie ihm in diesem Zustand für seine Studien zu überlassen. Oder doch? Auch wenn die Neugier von ihm Besitz ergriffen hat, beschließt Lithan, erst einmal die Finsternis seines Traumes mit Licht zu erfüllen und zu klären, was genau die Einhörner im Norden vorhaben könnten und in welcher Verbindung sie zu dem Dämon stehen. Er würde sie ja einfach fragen, wenn er damit rechnen könnte, von ihnen eine klare und unzweideutige Antwort zu erhalten. Sorgfältig überfliegt er die lesbaren Punkte der Kapitelübersicht. Seine Hoffnung fängt an zu schwinden, bis er, schon fast am Ende angekommen, auf ein Kapitel mit dem Namen Der blaue Dämon und der weiße Engel stößt. Es klopft an der Tür. Lithan blättert hastig bis zu dem Kapitel vor und ignoriert auch das wiederholte Hämmern an der Tür, bis diese sich einfach öffnet.
„Lithan, wieso öffnest du nicht?“, fragt ihn einer der Ordensbrüder.
„Du hast die Tür ja auch ohne meine Hilfe öffnen können“, antwortet Lithan, während er konzentriert die richtigen Seiten sucht.
„Du hättest mich doch hereinbitten können.“
„Wenn mir nach Gesellschaft wäre, hätte ich das wahrscheinlich auch getan“, erwidert Lithan.
„Ich wollte dir nur sagen, das Bithan und Watin gerade die Kammer der Züchtigung verlassen haben.“
Sofort sind der blaue Dämon und der weiße Engel vergessen. Lithan steht auf, läuft wortlos an seinem Ordensbruder vorbei und stürmt die grauen, kühlen Gänge zum kleinen Innenhof entlang, auf dem sich der Zugang zum unterirdischen Kerker befindet, in dem seine beiden Freunde von Yuthian eingesperrt wurden, um für seinen Ungehorsam bestraft zu werden.
Freude und Sorge treiben Lithan mit zügigen Schritten voran. Die Freundschaft zu Watin und Bithan hat sich über die letzten Tage, bevor sie ihre Strafe antreten mussten, entwickelt. Die ersten Tage und Wochen im Kloster empfand er gerade diese beiden jungen Brüder in ihrer eifrigen und gottesfürchtigen Art nervig und anstrengend. Er war erstaunt, als die beiden immer öfter Kontakt zu ihm suchten und offenbar fasziniert davon waren, das Lithan so offen und unverblümt den Glauben an Gott und den Sinn hinter den tagtäglichen Ritualen anzweifelte. Keiner der beiden, das war zumindest Lithans Eindruck, spielte ernsthaft mit dem Gedanken, sich von seiner Blasphemie anstecken zu lassen. Doch sie schienen zumindest interessiert und aufgeschlossen gegenüber Andersdenkenden zu sein. Eine Besonderheit, die Lithan aus seinem strengen Elternhaus und der eisernen Hand seiner Mutter nicht kennt. Ob er die beiden außerhalb dieser Klostermauern seine Freunde nennen würde? Diese Frage hat sich Lithan in den letzten Tagen schon des Öfteren gefragt. Doch nicht jetzt. Jetzt sind Watin und Bithan seine Freunde, die für seinen Ungehorsam bestraft wurden.
Schuld ist seine Strafe. So oder ähnlich hatte sich Yuthian ausgedrückt. Seine Schritte verlieren an Tempo, als Lithan, der seit der Ankündigung der Strafe durch Yuthian nicht mehr mit den beiden sprechen konnte, an die Schuldvorwürfe denkt, die die beiden ihm machen könnten. Und er könnte es ihnen nicht verdenken. Wenn er nur daran denkt, ohne Licht und ohne Freiraum eingesperrt worden zu sein, vielleicht noch ohne Möglichkeit, sich zu erleichtern und sich sauber zu machen, nur bei Wasser und Brot, er würde durchdrehen. Aus seinem Sprint durch die Gänge des Klosters ist inzwischen ein langsames, zögerndes Schleichen geworden. Der Zugang zum Innenhof ist noch wenige Schritte entfernt. Lithans Herz schlägt höher. Watin und Bithan könnten sehr aufgebracht sein, wenn sie ausgerechnet ihn, kurz nach ihrer Freilassung sehen. Er bleibt stehen. Während er bereits einen vorsichtigen Schritt zurück macht und darüber nachdenkt, in die Bibliothek zurückzukehren, betritt ein Klosterbruder den Gang. Watin und Bithan folgen ihm. Beide sind blass und kämpfen sich kraftlos über den Boden des schmalen Ganges. Lithan stellt sich an die Wand, während ihm der Atem stockt. Die beiden haben ihn bemerkt. Während Bithan nach einem kurzen Blickkontakt sofort den Kopf senkt, lächelt Watin Lithan kurz an.
Ein Schauer läuft Lithan über den Rücken, als er die Hoffnungslosigkeit und die erschöpfte Wut in den Augen der beiden sieht. Ihre Kleidung ist schmutzig und
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