Sohn Der Nacht
das Vietnam Veteran's Memorial, das von den grasbewachsenen Ufern jenseits der Avenue verborgen wurde. Obwohl Merrick es von der Straße aus nicht sehen konnte, spürte er das Gewicht der langen schwarzen Wand aus Stein. Auf seiner polierten Oberfläche waren die Namen von nahezu achtund fünfzigtausend Toten eingraviert - an die fünfmal so viele, wie von der urzeitlichen Kreatur ermordet worden waren, die er jetzt jagte.
Merrick entspannte die Schultern und lockerte den Griff seiner Finger am Lenkrad. Er nahm die Roosevelt Bridge über den Potomac. Als er sich der Küste Virginias näherte, konnte er die dunklen Baumwipfel auf Roosevelt Island sehen, die sich der Brücke entgegenstreckten.
Der Blutsauger hatte bei seinem Mord geblutet. Großer Gott!
Merrick schlug auf das Steuerrad. Pech, daß Byner noch Katie dazugerufen hatte. Hätte es doch nur eine Möglichkeit gegeben, die roten Blutkörperchen selbst zu entdecken, solange ich noch am Tatort war, dachte er. Dann hätte niemand sonst sie gesehen, schon gar nicht ein Pathologe von der Polizei und eine Hämatologin ...
Katie.
Sein Verlangen nach ihr war unglaublich intensiv. Sie war so schön. Sie hatte sich das Haar wachsen lassen, und es sah großartig aus, dunkel wie das Gefieder eines Raben, mit deut lichen roten Untertönen. Er hatte es kaum geschafft, den Blick von ihren Augen zu wenden, deren exotischer violetter Farb ton ihn schon immer fasziniert hatte. Heute abend hatte sie gelächelt, als sie ihn gesehen hatte. Wie ihn das gewärmt hatte, dieses wunderbare, absolut ungekünstelte Lächeln. Katie sah schön aus, ohne es zu wollen. Aber es war ihre innere Schönheit, die er am meisten liebte. Ihre Freundlichkeit, ihr ausgeglichenes Temperament. Katie war verflucht mit der Gabe des Verständnisses. Gott, er vermißte sie! Und sie vermißte ihn, das war ihm klar. Er wollte, es wäre anders. Wenn sie ihn nur einfach hassen würde und es damit gut wäre, dann wäre es leichter, oder zumindest wären die Schmerzen schneller vorbei.
Sie wird in Gefahr geraten, dachte Merrick grimmig, wenn der Blutsauger erfährt, daß sie sein Blut hat.
Er fragte sich wieder, ob er das Blut nicht an sich nehmen sollte. Es wäre einfach genug - er brauchte heute abend nur zu ihrem Haus zu gehen, es gegen eine Probe ganz normalen Blutes auszutauschen und dasselbe in Byners Laboratorium zu tun ...
Aber war es dafür nicht schon zu spät? Katie und Byner hatten schon durch das Mikroskop einen Blick auf das Blut geworfen und die grundlegende strukturelle Differenz zu normalem Blut erkannt. Sie hatten bereits zwei der bedeu tendsten Geheimnisse dieses Blutes entdeckt - seine Membran und seine unerklärliche Frische. Was immer sie jetzt noch in Erfahrung bringen konnten, würde das Desaster kaum verschlimmern.
Wenn sie den Austausch bemerkten, würden sie unweiger lich mit anderen Leuten darüber reden. Und wen außer ihm könnten sie wohl verdächtigen, das Blut gestohlen zu haben? Damit würde er zum Brennpunkt ihrer Spekulationen wer den.
Und schließlich, selbst wenn ihm der Austausch gelänge, er würde nicht dazu beitragen, Katie zu schützen - denn falls Sie glaubte, das Blut des Killers zu haben, und der Killer davon
Wind bekam, dann hatte er keinerlei Grund zu der Annahme, daß sie sich im Irrtum befand, und würde deshalb genauso erbarmungslos über sie kommen.
Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte - es gab keinen schnellen Weg aus diesem Dilemma. Falls es nicht funktionierte, das Blut an sich zu bringen, blieb als einziger Weg nur noch, seine Wirkung zu begrenzen. Und der beste Weg dahin war, diesen Blutsauger möglichst schnell zu fan gen.
Ich brauche Sandeman, dachte Merrick.
Sein Gefühl, daß Eile geboten sei, wurde stärker, und er trat aufs Gaspedal. Die Abstände zwischen den Häusern wurden immer weiter, je länger er fuhr. Es begann wieder zu regnen, ein feiner Nieselregen, der die entgegenkommenden Schein werfer nur verschwommen erkennen ließ. Merrick versuchte, auch seine Aufregung zu dämpfen, aber es war unmöglich.
Bist du es wirklich, Zane?
Merrick verbannte die Frage aus seinen Gedanken. Er wollte nicht darüber nachdenken, wer dieser Blutsauger war. An der Kathedrale war er zu einem Schluß gelangt, obwohl dies genau das war, wovor er Byner gewarnt hatte. Nichts war bewiesen. Er würde sehen, was Sandeman dachte.
Merrick verließ die Route 50 und fuhr in eine enge Land straße ein, die sich in hundert Jahren kaum verändert hatte.
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