Sohn Der Nacht
Schwesternzimmer vorbeihuschte. »Was gibt's denn?«
»Jenny scheint heute abend sehr niedergeschlagen zu sein. Ich habe versucht, mit ihr zu reden, aber sie war ganz ver schlossen. Ich weiß nicht, ob sie Schmerzen hat oder was.«
Katie bemühte sich, ihre Müdigkeit zu bezwingen. »Ich seh' mal nach ihr.«
»Danke.« Die Schwester half ihr, Handschuhe und Maske anzulegen.
Jenny lag auf der Seite, die Augen weit geöffnet. Ihr Gesicht war schneeweiß.
Katie eilte an ihre Seite. »Jenny, was ist denn?«
Einen Moment antwortete Jenny nicht. »Nichts«, flüsterte sie dann. Katie berührte ihre Stirn. Jenny wich zurück, aber nicht bevor Katie durch den Handschuh hindurch das Fieber gespürt hatte. Katie nahm das Krankenblatt vom Fußende und schrieb eine Anweisung darauf, die Dosis Acetaminophen zu erhöhen.
»Schläfst du ein bißchen?« fragte Katie.
»Ich schlafe die ganze Zeit.« Statt sie anzusehen, blickte Jenny zu ihrer Barbie-Puppe auf dem Nachttisch hinüber. Karies Unsicherheit wuchs. Für gewöhnlich war Jenny viel gesprächiger, selbst wenn es ihr schlechtging. Heute abend dagegen schien es eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen zu geben. Depressionen? Jenny hatte Gott weiß Grund genug, depressiv zu sein. Und ich nicht weniger, dachte Katie. Sie stirbt, und es scheint, als könne ich gar nichts dagegen tun. Habe ich mich von ihr zurückgezogen? Verhält sie sich vielleicht deshalb jetzt so?
Ein schreckliches Gefühl der Hilflosigkeit überkam Katie. »Jenny, es tut mir so leid, daß du dich schlecht fühlst. Ich ver suche zu helfen, ich wollte, ich könnte es besser machen.«
Zum erstenmal richteten sich Jennys Augen wirklich auf sie. »Sagen Sie das doch nicht, Dr. O'Keefe. Sie tun alles, was Sie können.«
»Wenn du mir sagen könntest, was dich bedrückt...«
»Ich ... ich habe immer diesen ... Traum.«
»Erzähl«, sagte Katie liebevoll.
»Ein Junge kommt in mein Zimmer ... Er ist ganz schön groß und weiß gekleidet und trägt Mundschutz und Kappe, so wie jeder hier ...«
»Kennst du ihn?«
Sie schüttelte den Kopf. »Und was passiert dann?«
Jenny schluckte schwer. »Er ... faßt mich an.«
Eine plötzliche Vorahnung durchzog Katie. Ihre Stimme klang weiter beiläufig. »Wo faßt er dich an?«
Jenny schüttelte den Kopf. Sie war jetzt sehr blaß.
Katie nahm die Puppe hoch. »Kannst du mir an Barbie zei gen, wo dich der Mann in deinem Traum berührt hat?«
Jenny starrte auf die Puppe. Nach einer Minute deutete sie auf die Brüste. Dann glitt ihr Finger hinunter bis zwischen die Beine der Puppe. Katie preßte die Zähne aufeinander; sie rief sich ins Gedächtnis, daß es ja nur ein Traum war. Oder doch nicht?
Ohne die Spannung, die sie verspürte, erkennen zu lassen, setzte sie die Puppe ab. »Jenny, bist du sicher, daß du den Mann aus deinem Traum wirklich nicht kennst?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann sein Gesicht wegen der Maske und der Kappe nicht sehen.«
»Manchmal hast du Alpträume, die sich mit Dr. Giggles beschäftigen. Könnte es Dr. Giggles sein?«
Jenny blickte einen Moment lang an Katie vorbei in die Ferne. »Vielleicht. Vielleicht ist er es.« Zum erstenmal an die sem Abend lächelte sie. »Verrückt, nicht wahr?«
»Nein. Es ist beängstigend.« Trotzdem verspürte Katie eine gewisse Erleichterung. Dr. Giggles war zweifelsfrei ein Alp traum, und wenn Jenny ihn nicht von dem Jungen unterschei den konnte, dann war womöglich auch der Junge nur ein Traum. Träume waren im Augenblick der einzige Zugang, den Jenny zum Leben hatte. Während sie mehr und mehr schlief, könnten die Schmerzen sie in jenem Zustand des Halbschlafens halten, in dem die meisten Träume vorkamen.
Dazu vom Fieber hervorgerufene Halluzinationen, und man hatte ein sehr verwirrtes kleines Mädchen. Davon zu träu men, von einem Jungen berührt zu werden, war für ein Mäd chen auf der Schwelle der Pubertät absolut normal. Wie trau rig, daß diese Berührungen im Traum nicht angenehm, sondern erschreckend waren. Katie spürte eine ohnmächtige Wut gegen die Grausamkeit dieser Krankheit. Jenny würde wohl nie einen Geliebten in ihren Armen halten. Und jetzt zer störten Angst und Verzweiflung ihrer Krankheit diese Erfah rung sogar noch in ihren Träumen.
Und doch...
»Jenny, wenn du von dieser Person träumst, die dich da berührt, bist du dann hier in diesem Zimmer und in deinem Bett?«
»M-m. Genau wie mit Dr. Giggles.«
»Jenny, wenn du das nächste Mal von diesem Jungen
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