Sohn der Verdammnis: Die Chronik der Erzengel. Roman (German Edition)
in der Welt des Menschengeschlechts sind voll. Unser Bruder Lucifer hat ihre Seelen verdorben. Das Gericht muss seinen Lauf nehmen.«
»Und doch liebt Er sie immer noch, Michael.« Gabriel wandte sich zu seinem Bruder um. Seine Züge waren vom Leid verhärmt. »Nicht wie wir, das Geschlecht der Engel. Er wurde als einer von ihnen geboren. Wandelte mit ihnen auf Erden.« Gabriels Stimme hob sich. » Lebte als einer von ihnen.«
»Starb als einer von ihnen.« Die Stimme erklang hinter ihren Rücken.
Die Brüder drehten sich um und sahen Jether in der Tür des Gemachs stehen.
»Ihre Schwächen, ihre Unzulänglichkeiten sind es, die Sein Mitleid wecken.« Jether lächelte sanft. »Er versteht all die Nöte und Bitternisse, die ihre Seele bedrängen.«
Gabriel starrte Jether mit aschfahlem Gesicht an. »Ich habe Dinge gesehen, Jether, die zu schrecklich sind, um sie auszusprechen. Die Sieben Siegel werden aufgetan. Die Reiter …«
»Geliebter Offenbarer.« Jethers Blick war mild. »Du sprichst wahr. Du hast viele Nächte als Seher gewandelt. Die vier Reiter der Apokalypse werden bald auf den Westwinden des Menschengeschlechts reiten, um ihre Wut zu entfesseln.«
»Das Menschengeschlecht … Seine Welt zerbricht.« Gabriel beugte das Haupt.
Jether kam zu ihm herüber.
»Es ist seltsam, Gabriel.« Jether legte seine Hand auf Gabriels Arm. »Mehr als vier Jahrzehnte habe ich als einer der unerkannten Engel unter den Menschen gelebt. Ich habe Übel und Bosheit unter dem Menschengeschlecht gesehen, die unvorstellbar sind.« Er schloss die Augen und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Und unverzeihlich … Vergewaltigungen. Abtreibungen. Kaltblütige Morde. Die schändlichsten Freveltaten.« Er öffnete die Augen. »Und dennoch …« Ein Ausdruck des Staunens legte sich auf Jethers altehrwüdiges Gesicht. »Und dennoch habe ich eine Liebe in der Welt des Menschengeschlechts gesehen, die selbst das Begriffsvermögen von uns Engeln übersteigt.«
Tief bewegt hielt Jether einen Moment inne.
»Ich habe gesehen, wie eine Mutter ihr Leben hingegeben hat, um ihr Kind zu retten. Ich habe im Krieg gesehen, wie Männer ihr Leben für ihre Kameraden geopfert haben. Ich habe mit eigenen Augen die abscheulichsten und selbstsüchtigsten Taten des Menschengeschlechts gesehen. Und zugleich …« Jether hob seine tränenerfüllten Augen voll Staunen zu Michael empor. »Zugleich habe ich ihre Herrlichkeit gesehen. Ich habe Sein Bild gesehen – Seinen Geist in ihnen. Oh, was ist der Mensch, dass Er seiner gedenke?« Den letzten Satz sprach Jether mit kaum vernehmbarer Stimme.
»Aber das ist noch nicht alles«, erklärte Gabriel, der nun Jether und Michael den Rücken zuwandte. »Ich sah Jehovah weinen …«
Michael holte tief Luft. Entsetzt.
»Jehovah weint um das, was geschehen wird.« Jether nickte. »Die große Drangsal, die über die Welt des Menschengeschlechts kommen wird …«
Michael senkte das Haupt. »In genau neun Monden wird Jehovah die Sieben Siegel Christos überantworten. Die Menschen sind Seine Untertanen. Er ist ihr König.«
Jether blickte hinaus auf die zwölf schimmernden Monde des Ersten Himmels und die Sternschnuppen und Blitze, die über dem Rubinentor erglühten. Er hob die Hand, bis in den wallenden blauen Nebeln des Ersten Himmels die Umrisse des Planeten Erde sichtbar wurden.
»Am Ende der menschlichen Geschichte«, verkündete Jether mit leiser Stimme, »wendet sich Jehovah schließlich von der Gnade hin zur Gerechtigkeit. So mitleidig, so zartfühlend, hat Er das Menschengeschlecht, jeden Einzelnen unter ihnen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von einem Zeitalter zum nächsten, zur Gemeinschaft mit Ihm eingeladen. Das Ende aller Zeiten ist nun gekommen. Er hat sie geliebt …«
Jether hob seinen Blick zu den beiden Brüdern. Seine Augen brannten wie von einem inneren Feuer.
»Nun wird Er sie richten.«
XXXI
EIN BLITZ AUS HEITEREM HIMMEL
Sieben Tage später: 5 . Januar 2022 Fifth Avenue –
Manhattan, New York
D er Chauffeur schloss die Tür der Limousine, als Jason durch den peitschenden Regen unter das weiß-goldene Vordach des Gebäudes eilte, in dem sich sein neu erworbenes Penthaus am Central Park befand. Für das andere Penthaus in Manhattan, das Julia und er während ihrer Ehe siebzehn Jahre lang geteilt hatten, war schließlich ein Käufer gefunden worden. Sehr zu Julias Freude, zumal der Erlös ihr eine lebenslange finanzielle Unabhängigkeit garantierte. Ihm war es
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