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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lohmeyer
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Interviews mit dir führen. Über die Zeit nach der Haft und wie du mit allem klarkommst.
    Ich hoffe, du fühlst dich nicht von mir unter Druck gesetzt. Ich will dir einfach nur helfen. Denn ich mag dich.
    Deine Sonja
    P. S.: Ich habe keine festen Bürozeiten. Ruf an, wann du willst.
    Es folgten zwei Telefonnummern und ein blasser rötlicher Fleck, als hätte die Schreiberin etwas verschüttet.
    Weller beobachtet verstohlen Henrys Reaktion. Doch der erlaubt sich keine emotionale Regung; sein Gesicht bleibt unbewegt. Einen Moment lang starrt er zum Horizont, an dem sich schwere Wolken ballen. Weller will gerade, neugierig, ob sein Klient den Kontakt zur Journalistin begrüßt oder nicht, fragen, ob es gute oder schlechte Nachrichten sind, da zerreißt dieser erst das Blatt, dann den Umschlag, lässt die Schnipsel über Bord fallen.
    »Keine Sorge, Weller. Antwort nicht nötig.« Henry grinst. »Weibergeschichten.« In seinem Inneren wehrt er Bilder aus der Vergangenheit ab: die Visitenkartenschnipsel seiner Mutter, die erst nach quälend vielen Spülvorgängen aus dem Toilettenbecken verschwanden. Nur ihren Abschiedsbrief und die Schallplatte, die sie ihm bei ihrem letzten Besuch geschenkt hatte, wollte er damals behalten.  Road to Kairo  von Julie Driscoll und Brian Auger.
    Henry steht auf, hilft Weller, der darauf verzichtet hat, das Zerreißen des Briefes zu kommentieren, beim Vertäuen und sieht sich, wie auch schon während ihres Törns auf dem Wasser, an den benachbarten Stegen nach einer Yacht mit Namen  Niobe  um.  Suchen, finden, abschießen.  Er wird sich weiterhin gut mit seinem Bewährungshelfer stellen, damit dieser Törn nicht der letzte bleibt. Zurzeit ist das Segeln sein einziger Anknüpfungspunkt an den Mörder. Rache kennt keine Zeit. Er will sich sicher sein, den Richtigen gefunden zu haben. Wie – das wird ihm noch klar werden, während er versucht, näher an den Wassersportler Oldenburg heranzukommen. Der erleichterte Blick, mit dem ihm sein Bewährungshelfer den Steg hinauffolgt, entgeht ihm.
    * * *
    Henry bewegt sich noch immer wie ein Tourist durch die Straßen. Vieles erkennt er kaum wieder, so sehr hat sich Wismar verändert. Die gesamte Altstadt ist – genau wie der Spiegelberg – fast lückenlos restauriert, trägt nun den  Weltkulturerbe status. Wo man vor fünfzehn Jahren Angst haben musste, von einem herabstürzenden Dachziegel oder Putzbrocken erschlagen zu werden, stehen nun akkurate Zuckerbäckerfassaden, laden Geschäfte, Cafés und Restaurants zum Betreten der Gebäude ein. Henry ist nicht sicher, ob er sich hier noch wohlfühlen kann, auch wenn die generelle Fremdheit, die er außerhalb der Anstaltsmauern spürt, vermutlich irgendwann einmal vergangen sein wird. Die pulsierende Aufbruchstimmung der Nachwendejahre, die hinter jeder maroden Mauer lauernden Möglichkeiten, die Phantasie des Mangels, all das, was er bis vor Kurzem mit dem Wismar, das er kannte, verbunden hat, ist einer schlecht kaschierten Enge, einer angstvollen, aufgeräumten Behäbigkeit gewichen, die ihn allzu sehr an seine Zelle im ultramodernen Gefängnisbau Waldeck erinnert. Im Wismar von heute wirken alle Fluchtwege verbaut.
    Schon mehrere Male ist er Leuten begegnet, an die er sich von damals erinnert. Kein Schimmer des Erkennens ist in ihrem Blick aufgeflackert. Nun, er hat sich natürlich verändert. Seine einst brünetten Haare sind im siebten Haftjahr – er war gerade vierunddreißig Jahre alt – plötzlich grau geworden. Auch trägt er sie nicht mehr schulterlang. Die großen, dichten 70er-Jahre-Koteletten, die er damals getragen hat, weil die Mädchen sie so schick fanden, sind längst verschwunden. Die Brille ist ebenfalls neu. Seit er vierzig geworden ist, lässt seine Sehkraft nach. Alles, was zwei, drei Meter entfernt ist, verschwimmt in Unschärfe. Den 90er-Henry gibt es, auch äußerlich, nicht mehr.
    Aber sein Gesicht ist doch noch – mit ein paar zusätzlichen Falten – dasselbe. Er versteht es nicht, dieses Nichtwiedererkanntwerden. Man könnte meinen, er wäre nie hier gewesen, hätte nicht drei Jahre lang diese Stadt zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht. Er würde spüren, wenn es nur ein Nichtwiedererkennenwollen wäre. Nein, er ist wirklich ein Fremder hier. Bei der Kassiererin im Drogeriemarkt am Markt ist er sich sicher. Mit der hat er 1991 was gehabt. Nichts Ernstes natürlich, dafür boten sich ihm zu viele andere gute Gelegenheiten.  Bärbel, Babsi, Beate?  Er kommt nicht

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