Sokops Rache
auf den Namen. Sie hat noch immer, trotz diverser zusätzlicher Kilos, die sie nun auf die Waage bringt, ein apartes Lächeln und Kastanienaugen unter der dunklen Wuschelfrisur. Kein Zweifel. Als er das Geschirrspülmittel und das Shampoo auf das Band legt, versucht er, ihren Blick aufzufangen. Sie sieht ihn kurz an und sieht ihn doch nicht. Er ist einer von hundert Kunden, die an diesem Tag an ihr vorbeiziehen. Tunnelblick. Als sie nach seinem Zehneuroschein greift, hält er ihn fest. Sie blickt auf, das Erstaunen liefert sich mit dem Ärger über die Störung ihres reibungslosen Arbeitsalltags einen Wettkampf auf ihren Gesichtszügen. Das Lächeln gefriert, macht sie plötzlich hässlich. Er lässt los. Sie schüttelt wortlos den Kopf, legt das Wechselgeld mit spitzen Fingern auf die Plexiglasablage. Er verlässt den Laden, merkt: Von ihr will er nicht wiedererkannt werden.
Und dann die Journalistin. Erst ihr Brief, dann, ein paar Tage später, konnte er ihr gerade noch in die Filiale der Sparkasse ausweichen, als sie ihm am Markt entgegenkam. Über den Kontoauszugsdrucker gebeugt hat er ihr durch die Scheibe nachgesehen, überlegt, wie er sie loswerden kann.
Zurück in seiner Wohnung – die er mit Stücken aus dem Sozialkaufhaus recht ordentlich möbliert hat – setzt er Kaffee auf und stellt einen Stuhl auf den von Hauswänden und der Mauer zum Nachbargrundstück umgebenen winzigen Hinterhof. Es ist elf Uhr. Die Sonne steht bereits so hoch, dass ihre Strahlen auf die obere Mauerhälfte fallen. In vierzig Minuten wird er für eine gute Stunde in der Sonne sitzen können, bevor sie hinter dem Nachbarhaus verschwindet. Er wird sein Hemd ausziehen und die hellen Strahlen seine Knastblässe verzehren lassen. Dieser Ablauf ist bereits Routine. Außer den obligatorischen Gängen zur Arbeitsagentur und den Besuchen bei Weller alle vierzehn Tage hat er keine offiziellen Verpflichtungen. Die andere Aufgabe, das Ausspähen und Überführen des Mörders, die stetige Vorbereitung seiner Rache, ist die einzige durchgehende Beschäftigung, der er nachgeht. Sein Telefon zirpt.
»Rainer – und sonst keiner.« Strom atmet laut, im Hintergrund heult mehrfach ein Motor auf. »Henry, ich hab was für dich. Für einsfünf. Schau ihn dir an. Bist du zu Hause? Ich hol dich in zehn Minuten ab.«
Henry rechnet. Von den 4 755 Euro des sogenannten Überbrückungsgeldes, das er während der Haftzeit angespart hat, sind rund tausend Euro für die erste Wohnungsmiete, die Kaution und für die Möbel draufgegangen. Dreihundert hat es ihn gekostet, sich in einen einigermaßen gut gekleideten Menschen zu verwandeln, der nicht jeden Tag dieselben Sachen trägt. Er kann sich die Einsfünf leisten. Sollte das überhaupt noch notwendig werden, muss er sich erst in ein, zwei Monaten ernsthaft nach einer Geldquelle umsehen. Die Almosennummer auf dem Hartzvierabstellgleis wird er sich ersparen, wenn es irgend möglich ist. Sein Blick fällt auf die Aktenordner mit seinen Prozessunterlagen, dem Schriftwechsel mit dem Anwalt und den amtlichen Schreiben, die im aus Brettern und Ziegelsteinen improvisierten Regal stehen. Die Dokumente seines Scheiterns und seiner Ohnmacht vor dem Urteil des Staates, dem Verlust seiner Rechte, seines Erbes und seiner Zukunft. Nichts ist ihm geblieben. Übermächtig ist sein Wunsch nach Genugtuung, danach, den wahren Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen, ihn bluten zu sehen, wie er selbst in den letzten fünfzehn Jahren geblutet hat. Er spürt, er ist nah dran an demjenigen, der seinen Vater getötet und ihn zu einem armen, chancenlosen Schlucker gemacht hat.
Eine Stunde später sitzt er in dem zwölf Jahre alten VW Golf, fährt ihn für ein paar Stunden zur Probe. Kein Vergleich zu seinem 79er-Spider, mit dem er einst Wismar unsicher gemacht hat. Der Wagen ist nicht schön, nicht besonders schnell, dafür unauffällig, einigermaßen in Schuss und günstig im Unterhalt. Vorsichtig fädelt er sich in den Verkehr auf der am Hafen entlangführenden Wasserstraße ein. Seit fünfzehn Jahren das erste Mal am Steuer. Doch schon in Wendorf fühlt er sich eins mit dem Fahrzeug. Er erinnert sich, wie hier 1993 die Seebrücke eingeweiht wurde. Seebad Wendorf hatte es geheißen – was ihm damals so hochstaplerisch erschienen ist wie heute. Mehr als ein Stadtviertel voller Mietskasernen und mit einer kleinen Seebrücke war es nicht und scheint es auch heute nicht zu sein. Aus dem Radio dringt die Stimme der
Weitere Kostenlose Bücher