Solang die Welt noch schläft (German Edition)
er nein sagte, weil er schon einen guten Mann hatte? Oder weil er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte? Die Vorstellung, auch von dem freundlichen alten Herrn eine Absage zu bekommen, war mehr, als Josefine ertragen konnte. Den Blick stur geradeaus gerichtet, eilte sie am Kaufhaus vorbei.
Bei der Hufschmiede angekommen, ging sie direkt in die Küche, wo ihre Mutter dabei war, Hefekuchen für den Mittagskaffee aufzuschneiden. Die verdiente Pause nach einer arbeitsamen Woche … Der altbekannte Anblick des trockenen Kuchens, der hinten im Gaumen kratzte und nur mit großen Schlucken Kaffee hinunterzuspülen war, versetzte Josefine einen kurzen Stich. Sie atmete tief durch, dann legte sie fünf Markstücke auf den Tisch.
»Wie versprochen werde ich meine Schulden abbezahlen, aber keine Sorge – ich komme fortan nicht jeden Samstag mit fünf Mark hier vorbei. Ich wollte dir nur zeigen, dass es mir ernst ist. Das nächste Mal komme ich, wenn ich fünfzig Mark zusammenhabe.«
Ihre Mutter schaute auf das Geld und nickte erstaunt.
Josefine räusperte sich. Weder Eitelkeiten noch Empfindlichkeiten konnte sie sich leisten, also holte sie abermals Luft und sagte mit gequältem Unterton: »Da wäre noch etwas … Ist es in Ordnung, wenn ich ein paar meiner alten Kleider hole? Ihr habt ja gewiss keinen Bedarf an ihnen.«
»Deine alten Kleider? Aber …«
Mit zusammengekniffenen Lippen wartete Josefine darauf, dass ihre Mutter irgendeine unsinnige Erwiderung hervorbrachte, nur um ihr zu schaden. Doch Elsbeth Schmied überlegte es sich anders. Sie machte eine gleichgültige Handbewegung in Richtung Treppe. »Geh und hol dir, was du brauchst. Alles ist noch an seinem Platz. Aber beeil dich! Wenn der Schmied-Schmied dich dabei erwischt, wie du Dinge aus seinem Haus trägst …« Drohend ließ sie ihren Satz ausklingen.
Keine zehn Minuten später verließ Josefine ihr Elternhaus wieder. Sie trug schwer an dem Stoffsack, dafür war ihr Herz leichter als auf dem Hinweg. Die Unterwäsche, Kleider, Röcke und Blusen, die sie aus ihrem Schrank genommen hatte, entsprachen zwar nicht gerade der neuen Mode, aber immerhin würde sie nun ein bisschen Garderobe zum Wechseln haben und manierlich aussehen.
Den Rest des Tages verbrachte sie damit, auf dem großen Tisch in der Gemeinschaftsküche mit einem geliehenen Plätteisen ihre zerknitterte Wäsche glattzubügeln. Dann wählte sie sorgfältig ein Ensemble für den nächsten Tag aus, bestehend aus einem dunkelblauen Rock und einer hübschen gelben Bluse – so angezogen würde sie im Veloverein bestimmt niemand mehr mit einer Schankmagd verwechseln! Zufrieden mit ihrem Tagwerk, gönnte sie sich gegen Abend einen kleinen Spaziergang und träumte vom Morgen.
Zum wiederholten Male schaute Isabelle auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zum Start. Obwohl sie gerade erst von der Toilette gekommen war, hatte sie das Gefühl, schon wieder gehen zu müssen. Sollte sie oder sollte sie nicht? Jetzt, so kurz vor dem großen Rennen, stieg ihre Aufregung ins Unermessliche, auch wenn sie alles dafür tat, es sich nicht anmerken zu lassen. Fahrig schob sie eine Locke, die sich aus ihrer eng am Kopf anliegenden Hochsteckfrisur gelöst hatte, aus dem Gesicht.
Es war ein kühler Aprilsonntag. Der leichte Wind, der von Osten her auf die Rennbahn wehte, ließ sie in ihrem Radfahrkostüm frösteln. Aber beim Rennen, das über zehn Runden ging, würde ihr schon mächtig warm werden. Trotzdem linste sie ein wenig neidisch auf die dicken Jacken, in die die in Massen einströmenden Gäste vermummt waren. Fast alle beeilten sich, sich die besten Plätze rings um die Rennbahn zu sichern. Zu den Ständen, an denen Sekt und Champagner ausgeschenkt wurde, verirrten sich die wenigsten.
Gedankenverloren schob Isabelle ihr Rad über den Platz. Sie hatte viel trainiert, fühlte sich gesund und kräftig. Aber ob das für einen der ersten Plätze reichen würde? Im Geist ging sie die Starterliste ein weiteres Mal durch.
Luise Karrer war ihre stärkste Konkurrentin. Sie war eine schnelle Starterin und ebenso schnell auf der Strecke unterwegs. Auch war sie stets fair, Störmanöver, wie anderen in den Weg zu fahren, musste man von ihr nicht fürchten.
Auf Chloé hingegen würde sie aufpassen müssen, denn die setzte gern einmal unsportlich ihre Ellenbogen ein, um sich den Weg an die Spitze frei zu machen.
Irene hingegen –
»Kind, willst du nicht noch einen Schluck trinken?«
Isabelle zuckte zurück, als
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