Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Gefühlen.
Ob es ihre Bemerkung gewesen war, die Adrian dazu veranlasst hatte, doch noch reinen Tisch mit seinem Vater zu machen?
Adrian hatte in der Vorwoche seinen Vater aufgesucht und ihm eröffnet, dass er vorhabe, nach Amerika zu reisen und sein eigenes Glück zu machen.
»Er hat es erstaunlich gefasst aufgenommen«, hatte Adrian ihr völlig perplex nach dem Gespräch berichtet. Er wolle sich beweisen. Sich selbst etwas aufbauen, so so. Er sei halt doch mehr seines Vaters Sohn, als er geglaubt habe, hatte der alte Neumann gesagt und Adrian anerkennend auf die Schulter geklopft. Dann hatte er noch wissen wollen, was nun mit der Hochzeit sei, woraufhin Adrian nur mit den Schultern zuckte.
»Ob verschoben oder ganz aufgehoben, mir ist’s gleich«, hatte der Vater dann seinem verdutzten Sohn erklärt. Und hinzugefügt, dass er die von Moritz Herrenhus gewährten Darlehen längst auf Heller und Pfennig zurückgezahlt habe und sie der Familie somit nichts mehr schuldig seien.
Adrian war fassungslos gewesen. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
Der alte Neumann sah ihn erstaunt an. »Ich dachte, du magst das Mädchen?«
Von ihr, Josefine, hatte Adrian seinem Vater nichts erzählt. »Alles zu seiner Zeit«, hatte er gesagt.
Alles zu seiner Zeit? Josefine seufzte tief. Was, wenn seine Zeit in Amerika ablief? Würde Adrian überhaupt wiederkommen? Oder würde er in Amerika nicht nur günstige Fahrräder, sondern auch eine neue Liebe finden? Dann vergaß er sie irgendwo entlang der Ostküste sicher schnell. Sei nicht so pessimistisch!, schimpfte sie im Stillen mit sich selbst.
Als sich Isabelle und Adrian zum Abschied umarmten, trafen sich sein und Josefines Blick. Im nächsten Moment kam Adrian zu ihr. Er reichte ihr ein wenig steif die Hand, während doch alles in ihr danach schrie, ihn in den Arm zu nehmen und ihn nicht mehr loszulassen.
»Zweifle nicht an meiner Liebe zu dir. Und mach dir keine Sorgen um mein Wohlergehen, versprich es mir. Im Herbst komme ich zurück. Zu dir. Und dann fängt der Rest unseres Lebens an.« Er schaute sie liebevoll an, seine Stimme war eindringlich wie nie.
Auf einmal wurde Josefine ganz leicht ums Herz. Bestimmt würde alles gut werden!
»Wehe, du denkst nur an die Männer und bringst nicht auch eine stattliche Anzahl Damenräder mit! Die repariere ich nämlich besonders gern«, raunte sie Adrian zu. »Und nun geh schon, sonst fährt dein Zug ohne dich ab!«
26. Kapitel
Die neuntägige Schiffspassage nach New York verlief ruhig und ohne größere Vorkommnisse. Adrian, der erster Klasse reiste, genoss den Komfort des großen Dampfers ebenso wie die angeregten Tischgespräche und die abendliche Stimmung auf Deck, wenn Delfine das Schiff spielerisch begleiteten.
In New York gönnte er sich zwei Tage, um sich die Stadt, über die Gott und die Welt sprach, anzuschauen. Fahrräder gab es in New York viele, und sie machten sich mit den Kutschfahrern und Reitern die Straßen streitig wie in Berlin auch.
Beschwingt von den vielen neuen Eindrücken, machte sich Adrian anschließend auf den Weg nach Boston. Außerhalb der großen Stadt erregte er mit seinem Velo viel Aufmerksamkeit. Immer wieder wurde er von Leuten angehalten, musste erzählen und erklären. Einmal wurde er sogar von einem Zeitungsmenschen interviewt, der unbedingt einen Artikel über den Deutschen auf seinem Fahrrad schreiben wollte. Wie schade, dass er den Bericht wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen würde, dachte Adrian bedauernd.
Die Straßen waren zwar nicht so gut, wie er sie aus der Heimat kannte, aber er kam dennoch gut vorwärts. Da er an der Küste entlangfuhr, wurde er immer wieder mit grandiosen Ausblicken auf den Ozean belohnt. Er übernachtete zweimal in einfachen Hotels, stärkte sich mit fangfrischem Fisch, der über offenem Feuer gegrillt wurde, und traf am dritten Tag nach geschätzten fünfhundert Kilometern am Fabrikgelände der Pope Manufacturing Co. ein.
Stirnrunzelnd schob Adrian sein Rad zwischen zwei Pfeilern aus Stein hindurch. Am rechten baumelte an einem losen Nagel das Fabrikschild, so schwarz verkohlt, dass vom Schriftzug nur noch wenige Buchstaben leserlich waren. Das Tor selbst – wahrscheinlich einstmals kunstvoll geschmiedet – war zu unförmigen Klumpen zusammengeschmolzen. Adrian blieb stehen, fast krampfhaft hielt er sich am Lenker seines Rades fest, während er versuchte, sich inmitten der riesigen Staubwolke, die das Gelände einhüllte, zu orientieren. Wo
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