Solang die Welt noch schläft (German Edition)
einer Droschke ließ er sich in das verkommene Wohnviertel kutschieren, dankte den beiden Männern von Herzen und schenkte jedem einhundert Dollar.
Der Gegenwert von zwei Crescent-Rädern. Der Gegenwert seines Lebens. Was sein Leben in Zukunft noch wert war, musste sich erst herausstellen.
Genug der bitteren Gedanken, rief sich Adrian zur Ordnung, als der Zug mit einem schrillen Quietschen anhielt. Er hatte es geschafft, war wieder zu Hause.
Seine Wohnung roch muffig, er öffnete die Fenster, um den lauen Maienwind hereinzulassen. Dann wusch er sich, zog sich um und zog ein kleines ledernes Etui aus seinem Reisegepäck. Anschließend machte er sich wieder auf den Weg.
Josefines Haus war verriegelt. Die Katze strich miauend um seine Beine.
An der Werkstatt hing ein Schild. Darauf stand, dass die Werkstatt geschlossen sei und Reparaturen erst wieder ab Mitte Mai abgeholt beziehungsweise gebracht werden konnten.
War Josefine verreist? Wenn ja, wohin? Ausgerechnet jetzt … Adrian sackte enttäuscht in sich zusammen. Seit Wochen hatte er nur ein Bild vor seinem inneren Auge gehabt: wie Josefine und er sich in die Arme fallen würden. Wie er ihr das Etui überreichen und sie fragen würde, ob …
Von wem konnte er nur erfahren, was hier los war?, fragte er sich, während er ratlos auf die geschlossenen Fensterläden starrte. Schließlich gab er sich einen Ruck. Der Kaufhausbesitzer vorn in der Straße wusste bestimmt Bescheid, mit ihm stand Josefine schließlich in regem Geschäftskontakt. Ansonsten würde er zum Vereinsheim gehen. Isabelle wollte er nur zur Not aufsuchen.
Adrian hatte sich schon abgewandt, als er aus dem Garten ein leises Schluchzen hörte. Er stutzte und sein Herzschlag beschleunigte sich. War Josefine doch nicht fort?
»Clara?« Entsetzt starrte Adrian auf die in sich zusammengesunkene Gestalt, die auf einem von Josefines Gartenstühlen kauerte und mit leerem Blick ins Nichts starrte. Claras Arme waren von roten Schwielen bedeckt, ihr rechtes Auge war dick angeschwollen. Sie weinte.
Einen Aufschrei unterdrückend, ging Adrian in die Hocke. Sanft hob er Claras Kinn an und suchte ihren Blick. »Wer hat das getan?«, fragte er, die Antwort ahnend.
Statt zu antworten, machte Clara eine fast unmerkliche Kopfbewegung. Nicht darüber sprechen. So tun, als wäre nichts geschehen.
Seufzend tat Adrian ihr den Gefallen. Er war müde von der Reise, enttäuscht von Josefines Abwesenheit, ihm stand nicht der Sinn danach, zwischen die Fronten von Eheleuten zu geraten.
Doch auch Clara tat ihm einen Gefallen – sie fragte nicht nach seinem Befinden. Der Blick, mit dem sie ihn musterte, besagte jedoch, dass sie Bescheid wusste. »Willst du denn gar nicht wissen, wo Josefine ist?«, fragte sie stattdessen leise. Schleppend begann sie dann zu erzählen. Von Susanne Lindbergs Besuch und Jos Entscheidung, das Rennen mitzufahren. Von den vielen Trainingseinheiten, die Jo und die anderen absolviert hatten.
»Sie sind bei jedem Wind und Wetter gefahren, sogar bei Schnee, kannst du dir das vorstellen?« Über Claras Gesicht huschte ein kleines Lächeln. Ihre Stimme wurde mit jedem Satz fester, die Begeisterung der anderen Frauen schien auch auf sie abgefärbt zu haben.
»Josefine, Isabelle, Luise Karrer und meine Schwester auf dem Weg zu einem 1000-Kilometer-Rennen!« Adrian war fassungslos. Er wollte natürlich mehr wissen.
»In den letzten Wochen sind sie sogar mehrmals zehn oder zwölf Stunden hintereinander gefahren, kannst du dir das vorstellen? Der Veranstalter, ein Charles Hansen, meinte wohl, dass sie hin und wieder auch solche längeren Etappen trainieren müssten.«
»Charles Hansen habe ich schon vor Jahren bei einem Rennen kennengelernt. Er ist ein umsichtiger Mann, der das Rennen sicherlich bestens organisiert und für die Sicherheit der Fahrerinnen vorgesorgt hat.« Adrian fühlte sich zwar immer noch überrumpelt, gleichzeitig spürte er jedoch auch, wie sich ein großes Glücksgefühl in ihm breitmachte. Seine Jo und solch ein großes Abenteuer!
»Es fahren nicht nur Damen mit, auch einige Herren sind mit von der Partie. Als schützende Eskorte sozusagen.«
»Veit Merz kenne ich natürlich, aber den anderen, Leon Feininger … Von dem habe ich noch nie gehört.«
»Oh, das wird sich bald ändern, verlass dich drauf!«, bemerkte Clara eine Spur spöttisch.
Adrian hätte gern weitere Informationen über diesen Dauergast des Velovereins bekommen, doch mehr sagte Clara nicht.
»Ich wäre
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