Solang die Welt noch schläft (German Edition)
auf ihre Farbpalette schaute.
»Ja, das Industrieviertel hinter dem Spandauer Schifffahrtkanal, es wird wegen seiner vielen Kamine so genannt. Ich kenne es von unseren Velotouren«, sagte Josefine ungeduldig. »Du hättest mal die Reaktionen erleben müssen, als ich wegen einer Lehrstelle vorsprach! Frauen hätten keinerlei technisches Verständnis, das läge ihnen einfach nicht im Blut, hat mir einer erklärt. Frauen hätten für so etwas nicht genug Grips, meinte der Nächste und hat mich so verächtlich angeschaut, als wäre ich völlig verrückt. Ein anderer hat mir erklärt, dass Frauen kein räumliches Vorstellungsvermögen hätten und allein aus diesem Grund ein technischer Beruf für sie unmöglich wäre. Wieder ein anderer hat nur gesagt, dass es gerade noch fehlen würde, wenn wir ›Xanthippen‹ jetzt auch noch die Werkbänke erobern würden.« Verzweifelt warf sie die Hände in die Höhe. »Die halten uns wirklich alle für dumm. Keiner – kein Einziger hat gesagt, dass er den Versuch mit mir wagen will. Dass ich seit Jahren meinem Vater in der Werkstatt helfe und dort schwere Arbeit verrichte, hat nirgendwo etwas gegolten.« Wie ein Blasebalg, aus dem die Luft gewichen war, sank Jo in sich zusammen. Nach Oskar Reutters Worten hatte sie schon geahnt, dass ihre Suche nach einer Lehrstelle nicht einfach werden würde. Dass es sich dabei um ein Ding der Unmöglichkeit handelte, hätte sie allerdings nicht gedacht.
Frieda setzte ein paar gelbe Tupfer auf ihr Bild und betrachtete es einen Moment lang zufrieden, dann legte sie den Pinsel fort.
»Gut Ding will Weile haben! Nun warst du in zehn Fabriken, in Ordnung. Vielleicht musst du zwanzig oder dreißig besuchen, um einen Lehrmeister zu finden, der bereit ist, dich zu einem Werkzeugmacher auszubilden.«
»Mechaniker«, sagte Josefine müde. »Das ist jemand, der technische Geräte zusammen- oder auseinanderbaut, sie repariert und auch für deren Wartung zuständig ist. Ein Werkzeugmacher baut Werkzeuge.«
Die alte Frau winkte ab. »Egal. Jedenfalls darfst du nicht zu früh aufgeben!« Sie zeigte auf den Anbau ihres Hauses, in dem früher die Werkstatt ihres Mannes untergebracht gewesen war. »Kannst ja mal schauen, ob du dort das eine oder andere Werkzeug findest, mit dem du ein bisschen üben kannst.«
Josefine lächelte die alte Freundin voller Zuneigung an. »Das ist wirklich lieb von dir. Aber ich will nicht nur vor mich hin werkeln, sondern wirklich ernsthaft etwas lernen, verstehst du? Ich –« Sie seufzte resigniert. »Es hat ja doch keinen Sinn. Als Frau ist man nur ein Mensch zweiter Klasse, ganz gleich, ob du etwas Sinnvolles lernen willst oder ob du einem Veloverein beitreten möchtest.«
Abrupt schaute Frieda von ihrer Farbpalette auf. »Veloverein? Erlaubt Herrenhus Isabelle und dir das Fahren etwa wieder?«
»Eben nicht«, sagte Josefine missmutig. »Deshalb war ich ja letzte Woche in Schönefeld, dort gibt es nämlich einen Radfahrverein, der eine eigene Übungsbahn hat und sogar kleine Rennen veranstaltet – so stand es jedenfalls auf dem Plakat, das ich am Görlitzer Bahnhof gesehen habe. Ich dachte, wenn ich dort Mitglied werde, findet sich vielleicht eine andere Gelegenheit zum Velofahren.« Sie verzog das Gesicht, als habe sie Zahnweh. »Frieda, es war so schrecklich! Lauter sportliche, attraktive Männer waren auf sündhaft teuren Velozipeden unterwegs, sie lachten und scherzten miteinander, tranken Bier und hatten den größten Spaß.«
»Was soll daran schrecklich sein? In meinen Ohren klingt das nach einer sehr angenehmen Art des Zeitvertreibs.«
»Eben!« Jo nickte heftig. »Das Problem ist nur: Damen sind in diesem Verein nicht erwünscht.«
Frieda lachte auf. »Was hast du erwartet? Dass sie dich mit offenen Armen aufnehmen, dir ihre Velos anbieten und dir bei der Fahrt zujubeln? Männer bleiben nun mal gern unter sich, ganz gleich, ob das in einer Werkstatt ist oder in einem Veloverein.«
Mit funkelnden Augen schaute Jo die Nachbarin an. »Weißt du, worauf ich größte Lust hätte?« Ohne Friedas Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Einen eigenen Damenverein zu gründen! In irgendeiner leerstehenden Halle oder auf einem brachliegenden Gelände, wo wir Frauen fahren können, ohne angefeindet zu werden. Und ohne dass ein Moritz Herrenhus es einem verbieten kann. Das wäre zumindest mal ein guter Anfang.«
»Dann tu’s«, sagte Frieda ungerührt.
»Stell dir vor, Vater hat das Velofahren wieder für sich
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