Solang die Welt noch schläft (German Edition)
dauerte, bis sich der erste zu Isabelle herumdrehte und sagte, als habe er sie jetzt erst bemerkt: »Wen haben wir denn hier?«
»Darf ich vorstellen: Isabelle Herrenhus, meine zukünftige Verlobte!«, sagte Adrian und zwinkerte ihr dabei unauffällig zu.
Einer nach dem anderen gab Isabelle höflich die Hand, doch nach kürzester Zeit waren alle wieder in ihr Lieblingsthema, das Velofahren, verstrickt.
»Verlobte« schienen in dieser Runde nicht sonderlich hoch im Kurs zu stehen, dachte Isabelle verärgert und ging zur Theke, die sich fast über die ganze Länge des Raumes hinzog. Bei einer jungen Frau in Schürze, die Gläser polierte, bestellte sie Kaffee, dann setzte sie sich auf einen der mit Leder gepolsterten Stühle, die um blankpolierte Holztische herumstanden. Wie in einer gehobenen Gaststätte, ging es ihr durch den Kopf. Das Einzige, was auf ein Vereinsheim hinwies, waren die Stapel von Zeitungen, Büchern und Fachschriften auf den Tischen, in denen es nur um ein Thema ging: den Radsport mit all seinen Varianten. Auch die Wände wurden von Plakaten, Grafiken und Fotografien geziert, auf denen wiederum nur Herren und ihre Velozipede zu sehen waren. Daneben hingen zudem noch etliche Werbeplakate, gerahmt und hinter Glas: Die Rais Fahrrad-Werke aus Mannheim priesen sich einer Jahresproduktion von 9000 eleganten Damen- und Herrenrädern. Die Deutschen Gummiwaren-Fabriken machten Werbung für ihre Touren- und Rennreifen. Eine Firma aus Magdeburg nannte ihre Fahrräder Panther und bezeichnete diese als leicht, erstklassig und tadellos in der Ausführung. Jedes Plakat war aufwendig gestaltet, mit vielen Schnörkeln verziert und erinnerte mehr an ein Kunstwerk als an eine Werbeanzeige. Ob diese Firmen den Velozipeden-Verein ebenfalls finanziell unterstützten? Womöglich konnten sich die Herren Radfahrer deshalb solch eine vornehme Umgebung leisten, rätselte Isabelle.
»Ich drehe jetzt ein paar Runden«, sagte Adrian, der sich umgezogen hatte und nun in seiner Radfahrmontur vor ihr stand: ein enganliegendes Trikot und schmal geschnittene Hosen, unter denen sich fast jeder Muskel seiner kräftigen Beine abzeichnete. Dazu Stiefel aus geschmeidigem Leder, die jedoch nur bis zum Knöchel reichten. Die perfekte Kluft, um Velo zu fahren, ging es Isabelle bewundernd durch den Sinn. Und kein Mensch störte sich an den körpernahen Kleidungsstücken! Wenn sie daran dachte, wie Josefine und sie heimlich in Männerhosen gestiegen waren, um den schweren und beim Velofahren auch gefährlichen Röcken zu entkommen … Die Welt war wirklich ungerecht.
»Von hier aus hast du die beste Sicht auf mich«, sagte Adrian und zeigte auf einen Tisch vor der großen Fensterscheibe, die die Vereinsräume von der Rennbahn trennte.
»Oder auf mich«, sagte sein Nebenmann, ebenfalls in fescher Radlerkluft.
»Vielleicht will die junge Dame einen echten Profi sehen?«, sagte ein Dritter. »Dann muss sie mir zuschauen!« Unter Gelächter und freundschaftlichen Knuffen zogen die Männer davon.
Während Isabelle ihnen nachschaute, fühlte sie sich plötzlich allein und sehr verloren. Das letzte Mal, dass sie eine solche Kameradschaft erlebt hatte, war vor anderthalb Jahren gewesen, als Josefine, Clara, Lilo aus dem Schwarzwald und sie den Sommer velofahrend bei ihnen im Hof verbracht hatten. Was hatten sie gelacht, sich gegenseitig aufgezogen, angefeuert oder getröstet, wenn etwas nicht so funktionierte, wie man es sich vorstellte! Wunderbare Stunden waren das gewesen. Risse hatte die Idylle erst bekommen, als sich Clara das Bein gebrochen hatte.
Mit großer Ernsthaftigkeit begannen die Männer, Arme und Beine zu dehnen, dann stiegen sie auf ihre Räder. Isabelle schaute zu, wie sie Runde um Runde drehten. Ein paarmal winkte sie Adrian zu, der jedoch kein einziges Mal Notiz von ihr nahm. Dann eben nicht! Gelangweilt schnappte sie sich eine der Zeitschriften, die herumlagen, die Velosport heute und morgen. Seufzend schlug sie das Blatt auf. Sogleich sprangen ihr übergroße Lettern entgegen – die Überschrift zu einem seitenlangen Artikel. Darunter prangte das Foto eines attraktiven Mannes von ungefähr zwanzig Jahren. Er hielt mit beiden Händen ein Velo in die Höhe und grinste dabei so verschmitzt, dass Isabelle unwillkürlich lächeln musste. Neugierig widmete sie sich dem Artikel und las:
Isabelle hob die Brauen. Mit Ausrufezeichen war der Schreiberling nicht gerade sparsam umgegangen, seine Begeisterung für diesen
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