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Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Titel: Solang die Welt noch schläft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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gelang ihr diese gedankliche Flucht besser als an anderen. Heute war solch ein Tag, und vor Josefines innerem Auge tauchte außer den Baumalleen auch Friedas Garten mit dem großen Walnussbaum auf.
    Erst letzte Woche hatte sie wieder einen Brief von Frieda bekommen. Sie schrieb, dass der Holunderbusch an der Hauswand diesen Sommer voller Läuse sei. Und dass sich auf dem Kirchturm zwei Straßen weiter ein Storchenpaar eingenistet hätte. Inzwischen würden die Jungen schon erste Flugversuche unternehmen, Frieda machte sich einen Spaß daraus, sie mit einem alten Feldstecher dabei zu beobachten. Ein Bilderbuchsommer, hatte Frieda geschrieben.
    Sommer in Friedas Garten … Jo seufzte sehnsuchtsvoll. Das bedeutete Buttermilch, schön gekühlt im Wassereimer. Und frisch gezupfte Himbeeren in kleinen Schälchen. Auf dem Grab von Friedas alter Katze würde die gelbe Rose blühen. Ob Frieda dort, wo sie den Vogel, der im letzten Sommer gegen ihr Fenster geprallt war, begraben hatte, auch etwas angepflanzt hatte?
    Wie so oft hatte die alte Freundin ihrem Brief auch ein paar Zeitungsausschnitte beigelegt. Artikel über Geschehnisse in der weiten Welt, von denen sie glaubte, dass sie Josefine interessierten. In einem halbseitigen Artikel wurde über eine Amerikanerin namens Mary French Sheldon berichtet, die zu einer Expedition nach Ostafrika aufgebrochen war. Sie wollte dabei vorrangig die Lebensbedingungen von Frauen und Kindern erforschen. Als ob davon jemand Notiz nahm!, hatte Josefine beim Lesen gedacht. Wahrscheinlich würden die afrikanischen Frauen ein ähnlich stupides und hartes Leben haben wie ihre deutschen oder englischen oder französischen Geschlechtsgenossinnen. Ein anderer Zeitungsausschnitt erzählte von einer amerikanischen Radfahrerin, Fanny Bullock Workman, die zusammen mit ihrem Ehemann auf Velos die Welt bereiste. Die Welt? Frau Bullock habe vor, hieß es in dem Artikel, die Wege, die sie mit dem Velo fuhr, zu kartieren und ein Reisehandbuch für zukünftige Veloreisende herauszugeben. Unglaublich. Was wollte Frieda ihr mit diesen Beigaben zu ihren Briefen sagen? Dass auch sie eines Tages zu solchen Heldentaten fähig war? Wie abstrus.
    Eine laute Glocke zwang sie aus ihrer Gedankenwelt zurück in die Gegenwart. Arbeitsbeginn. Sofort wurde es ihr eine Spur leichter ums Herz. Während sich Adele und die anderen mürrisch auf den Weg in die Wäscherei oder die Küche machten, brach Josefine frohgemut in die Werkstatt auf.
    Sie fand Gerd Melchior an seiner Werkbank vor, tief über eine Nähmaschine gebeugt. Ohne aufzuschauen, sagte er: »Det zwoote Mal in drei Wochen. Wahrscheinlich ham de Madamen in der Wäschekammer ma wieder nich uffjepasst!«
    Interessiert schaute Josefine dem Hausmeister über die Schulter. Herauszufinden, woran ein technisches Gerät litt, war eine ihrer großen Leidenschaften geworden. Oft fand sie den Fehler nach wenigen Augenblicken, denn, das hatte sie festgestellt, es waren immer wieder dieselben Teile, die Probleme bereiteten: ein müde gewordenes Zahnrad, eine unruhig laufende Welle, Verbindungsteile, die gebrochen waren. Manchmal lief ein Gerät auch einfach deshalb nicht rund, weil es nicht genügend Schmiere hatte. War der Defekt nicht gleich erkennbar, konnte sie sich stundenlang in den Mechanismus verbeißen wie ein Terrier ins Wadenbein. So lange, bis sie irgendwann den sprichwörtlichen Haken an der Geschichte gefunden hatte. Doch das war bei der Nähmaschine nicht nötig. Selbstbewusst zeigte Josefine ins Innere der Singer-Maschine.
    »Die Zähne des kleinen Zahnrads links oben sind stumpf geworden, dafür können die Näherinnen in der Wäscherei nichts. Das Zahnrad muss nachgeschliffen werden, damit die Zähne wieder perfekt ineinandergreifen«, sagte sie.
    Melchior nickte zustimmend, dann schob er seinen Stuhl mit einem lauten Quietschen nach hinten. Er kniff kritisch ein Auge zusammen und fragte: »Trauste dir?«
    Josefine strahlte. Sie ging zu dem Regal, in dem ein Dutzend Feilen steckte, und zog eine der feinsten hervor. Dann machte sie sich ans Werk.
    Von allen Arbeiten, die der Hausmeister ihr übertrug, waren die Metallarbeiten ihr die liebsten. Das Fräsen und Schleifen, das Drehen und Bohren – alles erforderte ein gutes Auge, eine ruhige Hand und viel Geschick. Und laut Melchior verfügte sie über all diese Fähigkeiten. Inzwischen wusste sie, welche Art Hammer oder Feile man für welche Arbeit benötigte. Und wie sie das Werkzeug in der Hand zu halten

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