Solang die Welt noch schläft (German Edition)
hatte. Sie hatte ein Gefühl dafür bekommen, wie fest man ein Werkstück in den Schraubstock schrauben konnte, ohne es zu beschädigen. Der Hobel lag ihr genauso gut in der Hand wie die Metallfeilen. Ja, sie wagte sich sogar an Melchiors neueste Errungenschaft, eine Drehmaschine! Er ließ sie gewähren, traute ihr oft mehr zu als sie sich selbst. Melchior erklärte, führte ihre Hand, lobte und tadelte. Manchmal ließ er sie auch sehenden Auges ins Unglück rennen. Wie an dem Tag, als sie aus einem Stück Blech ein Dreieck herausfeilen sollte, das Melchior als Ersatzteil für ein anderes Werkzeug benötigte. Binnen kürzester Zeit war ihre Feile dabei so stumpf geworden, dass sie zu nichts mehr zu gebrauchen war. Melchior hatte nur gelacht. »Für jede Arbeit gibt es die passende Feile. Schau, diese hier musst du nehmen«, hatte er ihr erklärt und ihr das entsprechende Werkzeug gereicht. Josefine saugte jedes seiner Worte auf wie ein Schwamm, sie konnte nicht genug bekommen von Melchiors Belehrungen. Kein Wort, keine Lektion würde sie je wieder vergessen. Die Stunden an der Seite des Hausmeisters machten den Alltag im Frauengefängnis Barnimstraße nicht nur erträglich, sondern sie verliehen ihm einen Sinn.
»Woher kommt dein Interesse an der Technik?«, hatte Melchior eines Tages von ihr wissen wollen.
»Vom Velofahren«, lag es Jo auf der Zunge zu sagen. Stattdessen murmelte sie etwas von ihres Vaters Werkstatt.
In all der Zeit im Frauengefängnis hatte sie noch keinem Menschen vom Velofahren erzählt. Oh, es hatte sie mehr als einmal verlockt, von ihren Touren zu erzählen, ins Schwärmen zu geraten, beim Erzählen alles ein zweites Mal zu erleben … Nur aus Angst, dabei die Beherrschung zu verlieren, zu weinen anzufangen und nicht mehr enden zu können, hatte sie es sich verkniffen. Es verging jedoch kein Tag, an dem das Velofahren nicht in ihrem Kopf stattfand. Vor allem nachts, wenn sie auf ihrer Pritsche lag und das leise Schnarchen, Stöhnen und Jammern der anderen jungen Frauen im Ohr hatte, entfloh sie der stickigen Enge des Schlafsaals, indem sie in Gedanken die einzelnen Velostrecken abfuhr. Jede einzelne Kurve, jede Bodenwelle, jedes Haus versuchte sie sich dann vorzustellen. Das Velo war ihr Rettungsanker, ihr Fenster zur Freiheit.
Und doch – trotz der vielen Stunden, die sie mit und auf Herrenhus’ Velo verbracht hatte, war es ihr irgendwie fremd geblieben.
Wehmütig und wütend zugleich erinnerte sich Josefine daran, wie sie sich abgemüht hatte, hinter die technischen Raffinessen des Velozipeds zu kommen. Wie sah ein Steuerungslager von innen aus? Was hatten all die Rädchen an der Hinterradnabe zu bedeuten? Und was war zu tun, wenn eins davon ausfiel? Isabelle hatte kein Interesse an der Technik gezeigt, Unterlagen waren nicht aufzutreiben gewesen, und die Zeit, sich solchen Fragen ausgiebig zu widmen, hatte sie auch nicht gehabt. Nun versuchte sie in Gedanken, sich an die Einzelteile eines Velos zu erinnern und ihr bei Melchior gewonnenes Wissen darauf zu übertragen. Einmal hatte sie den Hausmeister sogar gefragt, ob er ein Velo besaß. Dann hätten sie es sich gemeinsam anschauen können und … Doch Melchior hatte nur erwidert: »Bin ick Krösus?«
Josefine war sich ziemlich sicher, dass Melchior ihre Leidenschaft fürs Velofahren verstanden hätte, doch sie schwieg auch ihm gegenüber.
»Für ein Weib stellste dir janz manierlich an«, sagte der Hausmeister, nachdem sie die Zähne des kleinen Rades sauber nachgefräst hatte. »Wenn du hier rauskommst, kannste dich in der Nähmaschinenfabrik von Ludwig Loewe vorstellen. Jemanden, der so jeschickt ist wie du, können die bestimmt jut jebrauchen. Vor allem, wo die Wirtschaft so floriert. Die Leute wollen immer nur kaufen, kaufen, kaufen! Und die Fabriken produzieren auf Teufel komm raus. Wenn ich da an meine Jugend denke … Arme Zeiten waren das. Arbeit gab es nur für die wenigsten, und wenn, dann gegen einen Hungerlohn.« Der Hausmeister winkte ab. »Aber ihr Jungen heutzutage, ihr habt doch alle Chancen der Welt. Und was macht ihr, statt sie zu nutzen? Verspielt sie leichtsinnig und landet dann hier, an diesem hässlichen Ort.«
Jo lachte. »Manchmal hören Sie sich an wie meine alte Nachbarin Frieda. Bei Frieda ist die Welt auch immer voller Möglichkeiten und Gelegenheiten, die man nur am Schopfe packen muss.« Ihr Blick wurde nachdenklich. »Ich würde das gern glauben, aber so einfach ist es nicht. Wie habe ich mir
Weitere Kostenlose Bücher