Solang die Welt noch schläft (German Edition)
einst die Hacken abgelaufen, um eine Lehrstelle als Mechanikerin zu finden! Von Fabrik zu Fabrik, von Werkstatt zu Werkstatt bin ich gegangen und habe nichts als verständnislose Blicke und Spott geerntet. Eine Frau, die einen technischen Beruf erlernen will? Wo käme man denn da hin!« Sie schüttelte traurig den Kopf. Welche Ironie des Schicksals, dass sie ausgerechnet im Gefängnis all das lernen durfte, was ihr im freien Leben versagt geblieben war.
Melchior seufzte. »Tja, es jibt noch jenügend Herrschaften vom alten Schlag. Aber die Zeiten ändern sich, glaub mir, Mädchen.«
»Das sagt Frieda auch immer.« Josefines Seufzen klang wehmütig. Von allen Menschen aus ihrem früheren Leben vermisste sie die herzenswarme Nachbarin am meisten.
»Es hört sich an, als sei diese Frieda eine ziemlich kluge Frau. Und Witwe ist sie obendrein, sagst du? Vielleicht sollte ick sie mal besuchen jehen«, sagte Melchior grinsend. Er legte Jo kameradschaftlich einen Arm um die Schulter. »Na, am besten warte ich damit, bis du wieder draußen bist. Dann kann ich gleich auch noch bei dir nach dem Rechten sehen. Nicht dass du mir noch einmal vom Weg abkommst!« Er bemühte sich um einen strengen Tonfall.
»Das wird gewiss nicht geschehen«, sagte Jo aus vollem Herzen. Sie nahm ein Staubtuch und wischte damit über die reparierte Nähmaschine. »Ich habe schon so viel kaputtgemacht in meinem Leben, das reicht bis ans Ende der Welt. Dass ich nun bei Ihnen lernen darf, wie man Sachen wieder repariert, bedeutet alles für mich.« Sie schaute den Hausmeister mit einem Blick voller Zuneigung und Dankbarkeit an. »Und wenn ich von Pontius zu Pilatus laufen muss, um eine entsprechende Arbeit zu finden, nichts anderes werde ich für den Rest meines Lebens tun. Das ist mein fester Plan, und nichts, aber auch gar nichts wird mich davon abhalten können.«
Davon, dass sie noch einige Pläne mehr hatte, erzählte sie Gerd Melchior nichts.
17. Kapitel
Berlin im März 1895
Dreieinhalb Jahre. 1277 Tage. Dazu genauso viele Nächte. Eine Ewigkeit. Dreimal Frühling, drei Sommer, vier Winter. Das Frühjahr, wenn ein laues Lüftchen durch die Gitterstäbe hereinwehte, war immer die schlimmste Zeit gewesen. Wenn wie durch Zauberhand auf den nackten Ästen der Linden zartes Blattgrün erschien, wenn der Himmel aussah, als hätte ihn jemand blank gewaschen. Wenn der Duft blühender Sträucher die Luft süßer machte als drei Stückchen Zucker den Tee – dann hätte Josefine heulen können vor Sehnsucht nach draußen. Die Winter, in denen man litt wegen der schlecht geheizten Räume, wegen des Geruchs von Schimmel und ungewaschenen Leibern, waren auch nicht viel besser gewesen. Wie sehr hatte sie sich nach ihrem warmen Zimmer und ihrem Bett mit der Federdecke gesehnt! Nach der guten heißen Erbsensuppe, die ihre Mutter samstags immer kochte.
Nur im Sommer und im Herbst war es einigermaßen erträglich gewesen.
Martha war schon lange nicht mehr da. Viele andere auch nicht. Dafür waren Neue gekommen und ebenfalls wieder gegangen. Josefine hatte sich mit niemandem enger angefreundet, und so war auch nie etwas wie Abschiedsschmerz aufgekommen, wenn eine junge Frau entlassen wurde. Das Gefängnis war kein Ort der Gemeinsamkeiten.
Gemeinsame Erinnerungen – die hatte sie mit Lilo, wenn sie sich, was selten genug vorkam, über ihre Anfänge beim Velofahren schrieben. Oder mit Clara, wenn es um vergangene Kindertage ging.
Clara … Sie war nun eine Frau Doktor. Seit ihrer Heirat hatte sich die Freundin nur noch äußerst sporadisch gemeldet. Josefines Magen krampfte sich zusammen, wenn sie an Clara dachte. Wie würde sich ihr Wiedersehen gestalten? An Isabelle traute sie sich gar nicht zu denken. Die Unternehmertochter hatte drei Jahre lang nichts von sich hören lassen, bestimmt waren alle Brücken zwischen ihnen längst abgebrochen.
Menschen kommen und gehen – war das die große Wahrheit, die hinter allem steckte? Melancholisch strich Josefine ein letztes Mal die Falten ihrer dünnen Bettdecke glatt. Wer würde sich heute Nacht hier in den Schlaf weinen?
Ihr Blick wanderte ein letztes Mal im Schlafsaal umher. Fahle Märzsonne fiel durch die vergitterten Fenster. Der Raum wirkte trostlos und verbraucht, schlechte Träume, Angst und Einsamkeit hatten die Luft schon vor langer Zeit verdorben. Auch nach all den Jahren fiel Jo in dieser Umgebung das Durchatmen noch schwer. Doch warum freute sie sich nicht, das Frauengefängnis Barnimstraße
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