Solang die Welt noch schläft (German Edition)
endlich verlassen zu können?, fragte sich Jo stumm und hatte das Gefühl, dass irgendetwas fehlte. Eine abschließende Handlung. Ein Abschiedsritual. Doch es wollte ihr nichts einfallen.
Die anderen waren längst bei der Arbeit. Eine junge Frau namens Margret war mit verdrießlicher Miene in Richtung Werkstatt gebummelt – sie sollte Melchiors neue Gehilfin werden. Ob die zwei miteinander zurechtkommen würden?, fragte sich Jo und verspürte einen Stich Eifersucht bei dem Gedanken, dass eine andere nun ihre Stelle einnehmen würde.
Sie und der Hausmeister hatten sich schon am Vorabend verabschiedet. Einen Trost gab es jedoch: Melchior hatte versprochen, sie spätestens im Sommer bei Frieda zu besuchen. »Will doch sehen, was aus meinem Lehrmädchen geworden ist!«, hatte er gesagt und ihr unbeholfen die Schulter getätschelt.
Gerd Melchior. Ihr Retter. Ihr Lehrer. Ohne ihn wäre sie verrückt geworden. Dank ihm verließ sie das Frauengefängnis unbeschadet an Geist und Seele.
Körperlich hingegen hatten die dreieinhalb Jahre schlechtes Essen, der niedrige Stand an Hygiene und der Mangel an frischer Luft allerdings Spuren hinterlassen: Das Kleid, das Jo bei ihrer Ankunft getragen und das sie am Morgen im Büro der Gefängnisverwaltung wiederbekommen hatte, schlotterte an ihrem Leib. Ihre Haut war fahl und schuppig, das Haar stumpf. Sie sah aus wie eine abgehärmte dreißigjährige Frau. Eine, die aus dem Knast kam. Eine, der das Leben übel mitgespielt hatte. Oder eine, die ihrerseits dem Leben übel mitgespielt hatte? Würden das die Leute denken, wenn sie sie sahen?
»Ich werde dich aufpäppeln wie einen Spatz, der zu früh aus dem Nest gefallen ist«, hatte Frieda in einem ihrer Briefe geschrieben.
Mit einem Lächeln ging Josefine zur Tür hinaus. Heute Nacht würde sie in einem ordentlichen Bett mit einer ordentlichen Decke schlafen.
Auf dem Weg zum Haupteingang sah sie am anderen Ende des Hofes den Schatten einer Frau, die ihr zuwinkte. Adele. Man hatte sie vor einem Jahr in die Erwachsenenabteilung gesteckt, danach waren sie sich nur noch auf dem Hof oder im Speisesaal begegnet. Lebenslänglich … Allein das Wort machte Josefine Angst. Beklommen winkte sie zurück.
Im Büro am Haupteingang wurden Josefine ein paar Dokumente hingelegt, die sie zu unterschreiben hatte. Dann bekam sie Geld für eine Fahrt mit der Straßenbahn einmal quer durch die Stadt sowie einen Zettel, auf dem die Adresse einer ersten Anlaufstelle stand, bei der sie sich melden konnte: eine Schuhsohlenfabrik in Feuerland. Josefine glaubte sich daran zu erinnern, auf einer ihrer Velotouren daran vorbeigefahren zu sein. Der Inhaber sei so ehrenvoll, ehemalige weibliche Sträflinge als Arbeiterinnen bei sich aufzunehmen, erklärte ihr die Wärterin. Und nicht nur das. Im Stockwerk über der Fabrik gäbe es sogar einen Schlafsaal, in dem sich die Arbeiterinnen ein Bett mieten konnten.
»Ein feiner Herr!«, sagte die Frau. »Sorgt dafür, dass solche verderbten Weiber wie ihr wieder in ein Leben mit Regeln und Anstand zurückfinden.«
Josefine nahm den Zettel schweigend entgegen. Sie band sich ihr Schultertuch um und ging dann ohne weitere Abschiedsworte davon.
Von wegen Schuhsohlen. Sie brauchte keine Anlaufstelle. Frieda wartete auf sie.
Während Josefine die Märzsonne auf ihrem Gesicht genoss und auf die Stadtbahn wartete, dachte sie an Friedas letzten Brief. Er lag fein säuberlich gefaltet in ihrer Umhängetasche, zusammen mit ihren anderen Habseligkeiten.
»Ich habe meisterhafte Pläne für dich«, hatte die alte Freundin geschrieben. Meisterhaft – das Wort hatte sie sogar unterstrichen. Eine seltsame Wortwahl, dachte Josefine nicht zum ersten Mal, während sie in die Straßenbahn stieg. Seit diesem Brief, der ihr vor drei Wochen gegeben worden war, fragte sie sich, was es mit Friedas Geheimniskrämerei wohl auf sich hatte. War es der Nachbarin womöglich gelungen, eine Lehrstelle als Mechanikerin für sie aufzutun? Die Vorstellung hätte Jo freuen sollen, aber auch hier blieb das erwartete Hochgefühl aus. Denn im Grunde hatte sie ihre Lehre längst hinter sich, absolviert beim besten Meister weit und breit. Und eigentlich wusste Frieda das. Hatten ihre Pläne vielleicht mit dem Velofahren zu tun? Hatte sie eine Möglichkeit gefunden, Jo ganz offiziell und erlaubterweise das Velofahren zu ermöglichen? Bei dem Gedanken machte Jos Herz sogleich einen Satz, doch besonders groß war ihre Hoffnung nicht. In all den Briefen,
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