Solange am Himmel Sterne stehen
»Mamies Mädchenname war nicht einmal Picard. Er war Durand.«
»Ich weiß«, murmele ich.
Als Annie in der fünften Klasse war, machten sie in ihrer Schule ein einfaches Stammbaum-Projekt. Sie hatte versucht, über eine Webseite Mamies Wurzeln zurückzuverfolgen, aber Anfang der Vierzigerjahre hatte es so viele Einwanderer mit dem Nachnamen Durand gegeben, dass sie nicht weitergekommen war. Sie hatte deswegen eine Woche lang geschmollt, wütend auf mich, da ich nicht auf die Idee gekommen war, Nachforschungen über Mamies Vergangenheit anzustellen, bevor ihr Gedächtnis zu schwinden begann.
»Vielleicht hat sie sich in dem Namen geirrt«, sagt Annie schließlich. »Vielleicht hat sie Picard geschrieben, aber Durand gemeint.«
»Vielleicht«, sage ich langsam, aber ich weiß, dass keine von uns beiden das wirklich glaubt. Mamie war heute so klar im Kopf gewesen wie schon seit Jahren nicht mehr. Sie hatte genau gewusst, was sie sagte.
Den Rest des Nachhausewegs fahren wir schweigend. Aber ausnahmsweise ist es kein unbehagliches Schweigen; Annie auf dem Beifahrersitz zürnt mir nicht mit jedem Atemzug; sie denkt über Mamie nach.
Das Licht am Himmel ist inzwischen fast völlig erloschen, und ich stelle mir vor, wie Mamie an ihrem Fenster sitzt und nach den Sternen Ausschau hält, während die Dämmerung allmählich der Schwärze der Nacht weicht. Hier draußen am Cape, vor allem wenn die Sommertouristen ihre Verandalichter bis zur nächsten Saison gelöscht haben, sind die Nächte dunkel und tief. Die größeren Straßen sind beleuchtet, aber als ich in die Lower Road und dann in die Prince Edward Lane einbiege, verschwindet das schwache Schimmern der Main Street hinter uns, und vor uns lösen sich die letzten Spuren von Mamies heure bleue in dem dunklen Nichts auf, das, wie ich weiß, die Westseite der Bucht von Cape Cod ist.
Ich habe das Gefühl, in einer Geisterstadt zu leben, als ich die letzte Abzweigung in die Bradford Road nehme. Sieben der zehn Häuser in unserer Straße sind Ferienhäuser, und jetzt, da die Saison zu Ende ist, stehen sie leer. Ich biege in meine Auffahrt ein – dieselbe Auffahrt, in der ich als kleines Mädchen an Sommerabenden Glühwürmchen gefangen und an Wintertagen meiner Mom beim Schneeräumen geholfen habe, um ihren alten Kombi zu befreien. Ich stelle den Motor ab. Wir bleiben im Wagen sitzen, aber weil wir nur einen Block vom Strand entfernt sind, kann ich Salz in der Luft riechen. Auf einmal überkommt mich das Bedürfnis, mit einer Taschenlampe hinunter zum Strand zu laufen und die Zehen in die schäumende Brandung zu tauchen, aber ich beherrsche mich; ich muss Annie helfen, sich dafür fertig zu machen, heute Abend zu ihrem Vater zu fahren.
Sie scheint auch nicht mehr bereit als ich, aus dem Wagen zu steigen.
»Warum wollte Mamie denn eigentlich unbedingt weg aus Frankreich?«, fragt sie schließlich.
»Der Krieg muss ziemlich schlimm für sie gewesen sein«, sage ich. »Wie Mrs Sullivan und Mrs Koontz gesagt haben, glaube ich, dass ihre Eltern gestorben waren. Mamie müsste erst siebzehn gewesen sein, als sie aus Paris weggegangen ist. Und dann hat sie, glaube ich, deinen Uropa kennengelernt und sich verliebt.«
»Das heißt, sie hat, na ja, alles zurückgelassen?«, fragt Annie. »Wie konnte sie das denn tun, ohne total traurig zu werden?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß es nicht, Schatz.«
Annies Augen verengen sich. »Du hast sie nie gefragt?« Sie sieht mich an, und ich kann sehen, dass die Wut, die für eine Weile im Winterschlaf gelegen hat, wieder da ist.
»Natürlich habe ich sie gefragt«, sage ich. »Als ich in deinem Alter war, habe ich sie ständig nach ihrer Vergangenheit gefragt. Ich wollte gern, dass sie mit mir nach Frankreich fährt und mir alles zeigt, was sie als Kind gemacht hat. Ich habe mir immer vorgestellt, dass sie den ganzen Tag mit dem Aufzug im Eiffelturm auf- und abgefahren ist, mit einem Pudel und einer Baskenmütze, und dazu ein Baguette gegessen hat.«
»Das sind doch alles Klischees, Mom.« Annie verdreht die Augen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den Anflug eines Lächelns um ihre Mundwinkel sehen kann, als sie aus dem Wagen steigt.
Ich steige ebenfalls aus und folge ihr durch den Vorgarten. Ich habe vorhin vergessen, das Verandalicht einzuschalten, bevor ich losgefahren bin, sodass es jetzt aussieht, als ob die Dunkelheit Annie vollständig verschluckt. Ich laufe rasch zur Tür und schließe auf.
Annie verharrt
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