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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Harmel
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hatte sie noch nie getan. Außerdem war Annie zwölf. Alt genug, um es zu erfahren. Nur zwei Jahre jünger, als Rose gewesen war, als der Krieg ausbrach.
    »Wer sind denn diese Leute?«, fragte Hope, während sie wieder auf die Liste sah.
    »Das ist meine Familie«, sagte Rose. » Deine Familie.« Sie schloss für einen Moment die Augen und schrieb ihre Namen auf ihrem eigenen Herzen nieder, das erstaunlicherweise all die Jahre nicht aufgehört hatte zu schlagen.
    Albert Picard, geb. 1897
    Cécile Picard, geb. 1901
    Hélène Picard, geb. 1924
    Claude Picard, geb. 1929
    Alain Picard, geb. 1931
    David Picard, geb. 1934
    Danielle Picard, geb. 1937
    Als Rose die Augen aufschlug, starrten Hope und Annie sie an. Sie holte einmal tief Luft. »Dein Großvater ist 1949 nach Paris gefahren«, begann sie. Ihre Stimme war angespannt, denn es fiel ihr selbst jetzt, nach so vielen Jahren, schwer, die Worte laut auszusprechen. Rose schloss wieder die Augen und erinnerte sich an Teds Miene an dem Tag, an dem er nach Hause kam. Er hatte ihr nicht in die Augen sehen können. Er hatte langsam gesprochen, während er ihr die Nachricht von den Menschen überbrachte, die sie mehr als alles andere auf der Welt geliebt hatte.
    »Sie sind alle gestorben«, fuhr Rose fort. Sie schlug die Augen wieder auf und sah Hope an. »Das war alles, was ich damals wissen musste. Ich habe deinen Großvater gebeten, mir nicht mehr zu sagen. Mein Herz konnte es nicht ertragen.«
    Erst nachdem er ihr die Nachricht überbracht hatte, hatte sie sich schließlich bereit erklärt, mit ihm in die Stadt am Cape Cod zurückzukehren, in der er geboren und aufgewachsen war. Bis dahin war sie entschlossen gewesen, in New York zu bleiben, für alle Fälle. Dort hatte sie geglaubt, gefunden zu werden, an jenem Treffpunkt, von dem sie Jahre zuvor gesprochen hatten. Aber jetzt gab es niemanden mehr, der sie finden könnte. Sie war für immer verloren.
    »Diese ganzen Leute?«, brach Annie das Schweigen, und Rose kehrte in die Gegenwart zurück. »Sie sind alle, na ja, gestorben? Was ist denn passiert?«
    Rose schwieg einen Augenblick. »Die Welt ist eingestürzt«, sagte sie schließlich. Das war die einzige Erklärung, die sie geben konnte, und es war die Wahrheit. Die Welt war in sich zusammengebrochen, erschüttert und geborsten zu etwas, was sie nicht mehr wiedererkannte.
    »Das verstehe ich nicht«, murmelte Annie. Sie sah verängstigt aus.
    Rose holte einmal tief Luft. »Von manchen Geheimnissen kann man nicht sprechen, ohne ein ganzes Leben zunichtezumachen«, sagte sie. »Aber ich weiß, wenn mein Gedächtnis stirbt, dann werden auch meine Liebsten sterben, die ich all die Jahre tief in meinem Herzen bewahrt habe.«
    Rose sah Hope an. Sie wusste, dass ihre Enkelin ihr Bestes tun würde, um es Annie eines Tages zu erklären. Aber zuerst würde sie es selbst verstehen müssen. Und dafür musste sie dorthin fahren, wo alles begonnen hatte.
    »Bitte flieg bald nach Paris, Hope«, drängte Rose. »Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt.«
    Und dann war sie fertig. Der Tribut war zu hoch. Sie hatte mehr gesagt, als sie in zweiundsechzig Jahren gesagt hatte, seit dem Tag, an dem Ted mit der Nachricht zurückgekehrt war. Sie sah hoch zu den Sternen und fand den, den sie Papa genannt hatte, den, den sie Maman genannt hatte, und die, die sie Hélène, Claude, Alain, David und Danielle genannt hatte. Ein Stern fehlte noch immer. Sie konnte ihn nicht finden, sosehr sie auch danach suchte. Und sie wusste, was sie schon immer gewusst hatte: dass es ihre Schuld war, dass er nicht da war. Ein Teil von ihr wollte, dass Hope auf ihrer Reise nach Paris etwas über ihn herausfand. Sie wusste, dass die Entdeckung Hopes Leben verändern würde.
    Hope und Annie stellten Fragen, aber Rose konnte sie nicht mehr hören. Stattdessen schloss sie die Augen und begann zu beten.
    Die Flut hatte eingesetzt. Es hatte begonnen.

7
    »Hast du, na ja, irgendeine Ahnung, wovon sie geredet hat?«, fragt Annie, sobald wir wieder in den Wagen steigen, nachdem wir Mamie abgesetzt haben.
    Sie fummelt an ihrem Gurt, um sich anzuschnallen. Erst als ich sehe, dass ihre Hände zittern, wird mir bewusst, dass meine es ebenfalls tun.
    »Ich meine, na ja, wer sind diese Leute denn?« Schließlich klinkt Annie den Gurt ein und sieht mich an. Auf ihrer glatten Stirn zeichnet sich Verwirrtheit ab, zwischen der Hand voll Sommersprossen, die immer blasser werden, je länger die Sommersonne hinter uns liegt.

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