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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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lächelte. »Nein, Jari. Mit einem Pflug. Ich habe kein Pferd. Gewöhnlich ziehe ich den Pflug selbst. Manchmal tut Branko es.«
    »Branko?« Jari spürte, wie etwas Heißes in seinen Eingeweiden aufstieg, schmerzhaft, glühend, etwas wie flüssiges Metall. Eifersucht.
    »Ja, Branko. Er wandert von Zeit zu Zeit hier heraus. Er hat kein Zuhause, er ist mal hier und mal da, unterwegs in den Dörfern um den Wald. Branko ist … anders als andere Menschen. Er kann nicht richtig sprechen, weißt du. Er ist ein Mann, er ist stark, aber er ist auch ein Kind. Ich würde ihm die Axt nie in die Hand geben. Manche Menschen haben Angst vor ihm. Ich habe Angst um ihn. Er ist so sehr … er selbst.«
    Jari atmete tief ein und wieder aus. Branko. Ein wandernder Dorftrottel. Kein Grund zur Eifersucht. Er versuchte, etwas Netteres zu denken als »Dorftrottel«, aber ihm fiel nichts ein. Seine Mutter hatte ihn immer ermahnt, dass es nicht gut war, auf Menschen herabzusehen, die Gott mit weniger Intellekt ausgestattet hatte als einen selbst. Gott gehörte zu den Dingen, die Jaris Mutter gerne stärkte und bügelte und fleckenfrei hielt.
    »Er ist lange nicht mehr hier gewesen«, sagte Jascha, und einen irritierenden Moment lang dachte Jari, sie spräche von Gott. Aber natürlich sprach sie von Branko, dem Mann-Kind.
    »Jetzt bin ich hier«, sagte Jari.
    Es sah also aus, als würde Jari bleiben. Wie lange? Diesen einen Tag? Zwei? Im Bad stand noch immer sein Rucksack, und als er sich die Zähne putzte und seine Zahnbürste in einen Becher stellte, in dem schon andere Zahnbürsten standen, sah er aus dem Augenwinkel das zusammengerollte Zelt. Es lag stumm auf den Fliesen, ein wortloser Vorwurf.
    »Bald«, sagte Jari laut. »Bald werde ich im Wald zelten, allein. Dies ist nur eine Zwischenstation. Ich bin ein Wanderer, ein Zugvogel auf der Durchreise.«
    Er schob das Zelt mit dem Fuß unter einen der hölzernen Schränke, deren Maserung so verschlungen war wie die gemalten, geschnitzten, geschmiedeten Ranken im ganzen Haus. Dann überlegte er es sich anders und brachte es hinauf in sein Zimmer, zusammen mit dem Rucksack.
    »Ich brauche einen Ort«, sagte er laut. »Einen Ort, an dem ich bleiben kann, trotz der Schönheit. Inmitten der Schönheit.«
    Er dachte wieder an Matti und daran, wie er die Augen verdreht hätte über ein Wort wie inmitten . Aber hier schien das Wort hinzugehören, es war alt und geheimnisvoll und verschlungen wie der Wald. Und obwohl Jari nie viel gelesen hatte, hatte er alte und geheimnisvolle Wörter schon immer gemocht. Er dachte auch an seinen Vater, der die Augen genauso verdreht hatte. Sein Vater mochte lieber handfeste, greifbare Wörter wie Abriebkante und Kreuzschlitzschraubenzieher , Wasserwaage und Monatslohn . Jari hatte sich stets bemüht, zu Hause die handfesten Wörter zu gebrauchen, die von ihm erwartet wurden. Jetzt fragte er sich, warum.
    Er rollte die Zeltbahnen halb ab, einen ebenfalls handfesten Gegenstand, und hängte sie über den Schreibtischstuhl, verteilte seine Kleider über dem Kopfende des Betts, fand eine Brotdose aus Plastik im Rucksack und stellte sie auf den Tisch. Dann trat er zurück, wie um ein Kunstwerk zu betrachten.
    »Matti«, flüsterte er. »Reicht das? Kann man so man selbst bleiben?« Er zögerte. »Aber wenn die Zeltbahn etwas Handfestes ist«, murmelte er, »etwas Greifbares, etwas wie Wasserwaage und Kreuzschlitzschraubenzieher, aus der Welt des alten Tischlermeisters, aus der ich fortgewandert bin … warum glaube ich dann, ich zu bleiben, wenn ich die Zeltbahn ansehe? Vielleicht gibt es kein altes Ich, das ich bleiben kann. Vielleicht gibt es nur ein neues Ich, das ich finden muss. Vielleicht ist es hier. Im Wald.« Er schüttelte den Kopf, wandte sich ab und schloss die Tür hinter sich.
    Dann ließ er sich von Jascha den Pflug erklären und begann, damit das winzige Weizenfeld hinter dem Haus zu pflügen, und es war gut, zu arbeiten, denn es verscheuchte die Gedanken. Beinahe musste er über sich selbst lachen, während er den Pflug zog.
    »Sieh ihn dir an, den Ackergaul!«, rief er Jascha zu. »Du hast ihn vor deinen Pflug gespannt, und vielleicht verändert er sich nach und nach, vielleicht wachsen ihm Hufe und eine Mähne …« Gestern Nacht, dachte er, habe ich mich in ein Cello verwandelt, und heute bin ich ein Pferd. Es ist wohl doch gut, dass ich das Zimmer habe, in dem das alte Militärzelt ein wenig Hässlichkeit verbreitet. Gut, dass ich eine Brotdose

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