Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
spürte es, er sang für den Jäger und seine neue Macht. Fürst des Waldes, dachte er, König des Winters, dort unten warten die drei schönsten Frauen der Welt. Der klingende Felsen wird ihnen sagen, dass der Jäger seinen Platz gefunden hat.
    Es waren Worte aus einem Märchen, die er dachte. Die Welt, in der es Parkplätze gab und Bierflaschen und Menschen wie Matti, die Welt, in der Macht nicht durch Gewehrkugeln bestimmt wurde, sondern durch Aktienanteile, Parlamentssitze und Medienpräsenz, hatte aufgehört zu existieren.
    Matti. Er öffnete die Augen. In seiner Tasche steckte noch immer der Brief. Er hatte keine Lust, ihn zu lesen, aber er wusste, dass er es tun musste, um ihn los zu sein. Er riss den weißen Umschlag auf, widerwillig.
    »Vergiss den Beginn nicht«, las er, flüsternd, »und nicht deine Angst.
    Vergiss deine Zweifel nicht und nicht deine Fragen.
    Vergiss nicht, den Brief, den du liest, zu zerstören.
    Vergiss nicht, woher du kommst.
    Mein Zeisig, das dunkle Auge ist tief. Der dort liegt, weiß Antwort und kann nicht mehr reden. Lass deine Flügel nicht verkümmern. Flieg, Zeisig, flieg fort. Hier gibt es nichts zu holen für einen Singvogel. Hier gibt es nur Winter und Kälte und Tod.«
    Jari zerknüllte das Blatt Papier ärgerlich, überlegte es sich anders und riss es lieber in kleine Stücke. Er zerriss auch den weißen Umschlag und streute die Fetzen in den Wind, und erst als er sie in die Luft hinaussegeln sah, erinnerte er sich, dass genau dies der Befehl des Briefeschreibers gewesen war: Vergiss nicht, den Brief, den du liest, zu zerstören . Es ärgerte ihn, dass er dem Befehl gefolgt war. Er hatte den Brief nicht zerrissen, weil es ihm befohlen worden war, sondern weil er unsinnig war. Er würde sich nicht von Buchstaben auf Papier aus dem Wald verjagen lassen. Da schrieb einer, der eifersüchtig war. Der es nicht haben konnte, dass Jari Cizek hoch oben auf dem singenden Felsen stand und seine Macht spürte. Der die Verwandlung nicht guthieß.
    Der Wind ließ die Fetzen des Briefes jetzt fallen, und die Gewichtlosen sanken langsam zu Boden wie die ersten Schneeflocken. Sie landeten am Fuß des Felsens in einem dornigen Gebüsch, das sich mit dicken schwarzblauen Kugeln geschmückt hatte. Schlehen.
    Jari hatte das Wort nicht ganz zu Ende gedacht, als ein schwarzhaariger Kopf aus den Büschen auftauchte. Die Besitzerin des Kopfes legte die Hand über die Augen und blickte zu ihm hoch. Er hoffte, dass sie die Fetzen des Briefes nicht gesehen hatte. Er hatte niemanden gebeten, ihm Briefe zu schreiben, und dennoch fühlte er sich seltsam ertappt. Besser, die Mädchen wussten nichts von den Briefen.
    »Jari?«, rief Jascha oder Joana oder Jolanda, in ihren Armen einen Korb voller Früchte.
    »Ich komme herunter!«, rief Jari. »Warte! Wo sind die anderen?«
    »Irgendwo hier zwischen den Zweigen«, antwortete sie und tauchte lachend zurück in die Dornen. Als er bei den Schlehenbüschen ankam, tauchte eines der Mädchen an einer anderen Stelle aus ihnen auf. Jari sah ihre Spottaugen. Er hielt den Hasen hoch.
    »Ich habe … einen Hasen geschossen.«
    »Ach«, sagte Joana. »Und ich dachte, es wäre ein Elefant.«
    Sie tauchte wieder in die Äste, und gleich darauf war sie bei ihm; er nahm ihre Hand und half ihr aus den Dornen. Doch ihre Augen waren jetzt sanfter. Es war nicht Joana. Dies war Jascha. Ihr Haar war voller Blätter und Aststückchen. Sie strahlte wie die Sonne am hohen Frosthimmel, strahlte ihn an.
    »Einen Hasen! Das gibt einen schönen Braten. Hat er es also geschafft, der Jäger. Zu schießen und zu treffen.«
    Jari nickte. Als er ihre Hand losließ, klebte das Blut des Hasen an ihren Fingerspitzen.
    »Oh«, sagte Jari. »Das tut mir … das ist mir … meine Hände sind dreckig.«
    »Blut ist kein Dreck«, sagte Jascha und lächelte. »Es fließt in uns allen.« Sie führte ihre Fingerspitzen zum Mund und leckte sie langsam ab – und aus irgendeinem Grund war Jari sich in diesem Moment nicht mehr sicher, dass es Jascha war, die neben ihm stand. Ehe er darüber nachdenken konnte, raschelte es im Unterholz hinter dem Schlehengebüsch, Schritte näherten sich von dort, rasch und zielstrebig, und Jari zuckte zusammen.
    Es war Tronke, der gleich darauf die Zweige auseinanderschob.
    »Ich sehe, da jagt jemand in meinem Revier«, sagte er, lehnte sich an eine junge Erle und zündete ohne Eile seine Pfeife an. »Jemand, der weder eine Erlaubnis hat noch einen

Weitere Kostenlose Bücher