Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
kam er zu der Lichtung mit den roten Hüten der Fliegenpilze, ohne sie gesucht zu haben. Hier, dachte er, habe ich sie geküsst. Welche auch immer. Es schien unendlich lange her. Damals war er noch kein Jäger gewesen, sondern ein Zeisig. Und auf einmal sprangen die Worte des Briefes wieder in seinen Kopf. Mein Zeisig, das dunkle Auge ist tief. Der dort liegt, weiß Antwort … Mein Zeisig .
    »Es ist eine von euch!«, sagte er laut. »Eine von euch Schwestern! Nur ihr sagt mein Zeisig, mein Wanderer, mein Jäger . Eine von euch schreibt Briefe, um mich fortzujagen. Warum?«
    Es raschelte zu Jaris Linken, und er war mit einem Satz dort am Rand der Lichtung, schob die dichten, tief herabhängenden Zweige einer Fichte auseinander.
    »Wer ist hier?«, flüsterte er. »Joana? Jolanda?« Ein Ast knackte unter seinen Füßen, und ein kleiner, unscheinbar grauer Vogel flog erschrocken aus dem Unterholz auf. Jari verfluchte den Ast – und hielt inne. Es war ein sehr weißer, blanker Ast. Er sah seltsam aus. Jari hob ihn auf. An der Bruchkante war das Holz gesplittert. Der Ast war innen hohl. Es war kein Ast. Es war ein Röhrenknochen.
    Jari ließ ihn fallen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Er sah jetzt, dass mehr Knochen unter der Fichte lagen, gebleicht von der Zeit, sauber abgenagt von den Organismen des Waldbodens. Die Knochen eines großen Tieres, eines Rehs vielleicht. Rehe starben … und dort, dort lag der Schädel des Rehs, halb unter Blättern verborgen. Jari schluckte seinen Widerwillen herunter und legte ihn frei. Der Schädel war weiß und sauber, er lag gut in der Hand. Als gehörte er dorthin.
    Aber etwas stimmte mit dem Schädel nicht. Jari drehte ihn ein wenig – und ließ ihn fallen. Ober- und Unterkiefer trennten sich durch den Aufprall. Jari starrte die Zahnreihen an. Dies waren nicht die Zähne eines Rehs. Dies war nicht der Schädel eines Rehs. Es war der Schädel eines Menschen.
    Es gibt immer wieder Wanderer, die in den Nebelwald hineingehen und nie wieder herauskommen.
    Jari kroch rückwärts unter der Fichte hervor, taumelte zurück auf die Lichtung, schüttelte sich und sah, dass die Nebel bereits in den Schatten lauerten. Der Abend kam.
    Die Pilze ließen sich ganz leicht abbrechen. Sie schmeckten anders als die getrockneten Pilze aus der Küche, sie schmeckten nach dem Kuss von damals, der so abrupt geendet hatte. Jari verlor ein wenig die Übersicht über die Anzahl. Er brauchte die Pilze. Sie würden ihm die Angst nehmen.
    »Joana? Jascha? Jolanda?«, flüsterte er schließlich. »Ich werde … ich werde euch beschützen.« Er packte sein Gewehr fester. »Vor was auch immer.«

Feuchtmoos
    Die Schönheit begann unter seltsamen Umständen.
    Das erste kleine Mädchen sah sie zuerst. Das zweite kleine Mädchen hörte sie zuerst. Das dritte kleine Mädchen spürte sie zuerst. Es würde, als Einzige, nie aufhören, sie zu spüren.
    Die Schönheit begann zwischen den ersten dichten Ästen des Waldes. Die Mädchen blinzelten ins Licht, als man ihnen die Augenbinden abnahm, in grünes, lebendiges Licht, und konnten nicht glauben, was sie sahen. Es war das Gegenteil von allem, was sie in den letzten beiden Jahren gesehen hatten. Es gab keine Wände. Keine Dunkelheit. Keine verschlossenen Türen. Es war auch das Gegenteil von allem, was sie davor gesehen hatten. Es gab keine zu sauberen Fußböden. Keine Nannys und Kindermädchen und keine Alarmanlage.
    »Wir sind wieder dort«, flüsterte das dritte kleine Mädchen. »Dies ist der Tag, an dem unser Vater mit uns im Wald spazieren geht. Gleich kommt er hinter einem Baum hervor.«
    »Unsinn«, sagte das zweite kleine Mädchen. »Es ist ein anderer Wald.
    »Aber die Vorstellung ist schön«, flüsterte das erste kleine Mädchen, das keinen Streit wollte.
    »Schsch!«, machte der Mann, der bei ihnen war. Das war der Mann, den das dritte kleine Mädchen den Netten Mann nannte. Trotz der Sache mit dem Weihnachtsbaum. In seinen Augen blitzte Nervosität. Der andere Mann war nicht bei ihnen. Wenn das dritte kleine Mädchen an ihn dachte, dachte sie: der Arme Mann. Trotz der Sache auf dem Bett. Weil seine Kinder alle tot waren.
    Der Nette Mann hatte gesagt, hier wäre ein guter Ort, er kannte ihn von früher, kannte den Wald wie sich selbst. Sie folgten ihm schweigend. Er hatte ihre Hände zusammengebunden. Er hätte sich die Mühe sparen können. Sie hielten sich ohnehin an den Händen.
    »Guckt, die Farben«, sagte das erste kleine

Weitere Kostenlose Bücher