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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Mädchen.
    »Dämmergrün, Nebelmilch, Fuchsrot«, sagte das zweite kleine Mädchen. »Dunkelwein, Tiefschwarz, Brandorange.«
    »Rosentau«, wisperte das dritte kleine Mädchen. »Mondsilber, Feuchtmoos.«
    »Schsch!«, machte der Mann.
    Sie gingen schweigend weiter, stolperten über den unebenen Erdboden und hätten sich gerne bäuchlings daraufgelegt, um den Duft der Erde einzuatmen und die großen goldgrünen Käfer zu beobachten. Endlich hielt der Nette Mann an. Und da sahen sie die Felsen, die über ihnen aufragten, den Beginn eines Tunnels, gebildet von hohen Steinwänden und überhängenden Ästen. Es war schattig und kalt in dem Tunnel. Erst später würden sie das Wort »Klamm« lernen.
    Der Nette Mann führte sie zu einer Nische im Fels und bedeutete ihnen, hineinzutreten. Hier, sagte er, würden sie auf ihren Vater warten. Sie würden mit ihm sprechen dürfen, und die Männer würden den Vertrag bekommen, die schriftliche Zusicherung, dass ihre Forderungen erfüllt wurden. Endlich. Sie würden die Mädchen nicht freilassen, noch nicht, erst wenn die Männer Nachricht aus ihrem Land bekamen, dass alles geklappt hatte. Dass die Waffen angekommen waren, dass die deutsche Regierung ihre Leute wirklich unterstützte. Erst dann würden sie den Mädchen erlauben, zu gehen. Es konnte noch dauern, Tage, Wochen, Monate. Aber was waren ein paar Wochen? Es hatte zwei Jahre gedauert, der Regierung jenen Vertrag zu entringen, den der Vater der Mädchen mitbringen würde. Und sie durften ihn sehen. Jetzt gleich.
    Das dritte kleine Mädchen las die Angst in den Augen des Netten Mannes. Sie hatte die gleiche Angst in den Augen des Armen Mannes gesehen, Angst und Erschöpfung.
    »Wartet hier!«, befahl der Nette Mann und legte den Finger an die Lippen. Er zeigte nach oben, und dort, winzig klein in der Höhe, sahen sie zwischen den Bäumen am Rand der Klamm den Armen Mann. Er kniete im Schatten eines großen Felsbrockens und hielt seine Waffe schussbereit. Ihre dunkle Mündung zielte auf die Mädchen. »Versteht ihr?«, flüsterte der Nette Mann. »Ihr wartet, ganz still. Kein Ton!«
    Sie nickten, und er ging. Er würde ihren Vater treffen. Den Vertrag an sich nehmen. Ihren Vater zu ihnen führen.
    Jetzt. Jetzt. Jetzt.
    Die Nische im Felsen war kalt. Sie warteten lange. Sie sprachen nicht. Waren da Stimmen am Eingang der Klamm? Sie konnten den Eingang nicht sehen von ihrer Nische aus.
    Genau in diesem Moment begann in den Ästen über ihnen, am Rand der Klamm, eine Nachtigall zu singen.
    »Solange die Nachtigall singt …«, begann das dritte kleine Mädchen, vergessend, dass sie nicht sprechen durfte. Ihre Worte hallten an den Felswänden wider, hundertfach verstärkt: Solange die Nachtigall singt … Sie beendete ihren Satz nie. Das zweite kleine Mädchen hielt ihr den Mund zu. Gleichzeitig hörte sie Schritte vom Eingang der Klamm, rasche, rennende Schritte, so unnatürlich laut wie die Worte.
    Und sie wussten, dass etwas Ungeplantes geschah.
    Als Jari das Haus erreichte, war es, als befände sich der Nebel in ihm.
    Er war stundenlang gewandert, tagelang, jahrelang. Der tote Wanderer hatte ihn begleitet, sein Atmen, sein Wispern.
    »Jari«, sagte jemand.
    Er merkte, dass er auf der Küchenbank saß. Die Möbel um ihn waren verzerrt, sie wuchsen und schrumpften, während er sie betrachtete, und mit ihm wuchsen und schrumpften die Gestalten der Mädchen.
    »Jari!«
    Die Zweige in der Vase auf dem Fensterbrett reckten sich wie tastende Finger.
    »Was hast du angestellt?«, fragte Jascha sanft.
    »Ich habe etwas … gefunden«, flüsterte er. »Im Wald. Einen Toten. Nein. Seine Knochen.«
    »Die Wölfe«, sagte Jolandas kühle Stimme.
    »Deine Augen sind trüb, großer Jäger«, sagte Joana.
    »Fliegenpilze«, sagte Jari. »Vielleicht … zu viele. Diesmal.« Er schloss die trüben Augen. Das Wachsen und Schrumpfen der Umgebung war zu anstrengend.
    »Du musst etwas essen, Jari. Und lass den toten Hasen los.«
    Er lag jetzt auf der Bank. Er saß wieder. Er hielt einen Löffel in der Hand, schmeckte Suppe in seinem Mund. Er hörte die Mädchen reden, ohne ihre Worte zu begreifen. Über den Tisch verlief eine Straße, sie hatte sich tief ins Holz gegraben wie eine hässliche Narbe, metallene Fahrzeuge krochen darauf hin und her wie große abstoßende Käfer mit erschreckenden Mundwerkzeugen. Er schmeckte das Fleisch des Hasen in der Suppe, kaute und schluckte, kaute und schluckte – und schließlich verwandelte sich der

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