Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
Kershin.“
„Ja sehen Sie, Eva …“, er machte eine bedeutungsvolle Pause und schlug mit der flachen Hand auf die Kaffeemaschine, deren Standby-LED daraufhin mit einem leisen Klicken erlosch, „ich halte Ihre Thesen nach wie vor für etwas gewagt.“
Eva sah erstaunt auf. Seitdem ihre Patientin vor zehn Monaten zum ersten Mal ihre Behandlung in Anspruch genommen hatte, hatte Kershin keine Gelegenheit verstreichen lassen, ihre Arbeit akribisch auseinanderzunehmen. Und jetzt nannte er dieselbe Arbeit „etwas gewagt“? Noch dazu in einem Tonfall, der wohl kollegial gemeint war.
„Das … verstehe ich natürlich“, entgegnete Eva holprig, „aber versetzen Sie sich in meine Lage. Die Details die sie – Patientin S-1100 – nennt, entsprechen historischen Aufzeichnungen aus den Archiven bis ins kleinste Detail. Die Cosima-Wohnanlage gab es wirklich, die Beschreibung der Wetterumstände in besagtem Jahr passt zu den historischen Klimaaufnahmen, Namen von Einrichtungen und Personen konnten belegt werden.
„Und Sie sind sich ganz sicher, dass der Klon nicht irgendwie Zugang zu diesen Daten hatte?“
„Wie sollte sie? Mit ihrer Klassifizierung käme sie nie an solche Informationen.“
„Aber sie arbeitet im Sangre-Institut, vielleicht hat sie Kontakte …“, Kershin winkte den Gedanken ab, noch bevor Eva widersprechen konnte. „Dennoch ist sie ein Klon, hergestellt in einem Pariser Massenlabor vor etwa dreißig Jahren. Die Ereignisse, von denen sie berichtet, liegen aber hundert Jahre zurück.“
Eva nickte und schwieg. Kershin, offenbar zufrieden mit seinem Versuch, ein freundliches Gespräch zu führen, widmete sich wieder der Kaffeemaschine, der er dieselbe Portion roher Gewalt zukommen ließ wie zuvor. Draußen vor den großen Fenstern türmten sich graue Wolkenberge auf, ein Sturm von der Nordsee kommend war im Anmarsch. Eva wandte sich der Tür zu, hielt dann aber nochmal inne.
„Dr. Kershin?“
Kershin sah erneut von der Kaffeemaschine auf, von der er nun ein Teil in der Hand hielt, das nicht so aussah, als solle es von der Maschine getrennt werden.
„Wieso der Sinneswandel? Sie haben meine Arbeit monatelang niedergemacht, woher kommt nun das Interesse?“
Kershin sah sie an und rang mit einer Antwort, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder der Maschine zu.
Eva ließ Kershin mit seinem Kaffeeproblem alleine und schlug den Weg zur Umkleide für das Personal ein. Das Aljoscha-Krankenhaus war eines der modernsten Bauten in Hamburg auf dem Gelände des ehemaligen Freihafens. Nur noch ein kleiner Teil des Hafens wurde genutzt, von dem aus Schiffe zu den wenigen Außenposten entlang der Küste und auf den Inseln fuhren. Die Nordsee war – wie alle Meere – seit Jahrzehnten ungebändigt und kaum schiffbar, doch im Bereich des Wattenmeeres gab es immer wieder Zeitfenster, in denen einige Fahrten möglich waren.
Die Neuropsychiatrische Station lag in einem Teil des Gebäudes, der wie ein starres, mehrstöckiges Segel über dem kleinen Grasbrook aufragte. Vom gläsernen Fahrstuhl aus, den Eva nach Verlassen des fensterlosen Umkleideraums betrat, konnte man die ersten Lichter drüben auf der Nordseite der Elbe in den hohen Gebäuden der HafenCity sehen. Ein feiner Nebel lag über dem Wasser und machte den grauen Septembernachmittag noch dunkler.
Eva dachte an das zurückliegende Gespräch mit ihrer Patientin. S-1100 war die offizielle Bezeichnung für sie, doch ihr bürgerlicher Name war Solvejg Lune. Sie war erst seit wenigen Wochen Evas Patientin, doch die junge Ärztin widmete sich ihrem Fall bereits mehr, als jedem ihrer Patienten zuvor. Das Hamburger Institut für Sangre-Forschung war neben Paris und München führend auf dem Gebiet der Forschung und Ausbildung der Somatonik, aber im Gegensatz zu den anderen Einrichtungen ging es progressivere Wege und öffnete die Forschung auch anderen Disziplinen, wie der medizinischen Wissenschaft.
Die Akte Solvejgs war Eva daher teilweise zugänglich gemacht worden, nachdem sie in das interdisziplinäre Team um Professor Coolridge vom Institut für Sangre-Forschung aufgenommen worden war. 2083 – vor etwas mehr als dreißig Jahren – war Solvejg Lune im Alter von gut einem Jahr offiziell im Hamburger Institut für Sangre-Forschung aufgenommen worden. Der Ort ihrer Entstehung war das Labor des Pariser Instituts, die genauen Umstände, wie sie nach Hamburg gelangt war, standen jedoch nicht in der Akte. Lediglich war davon die Rede, dass
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