Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
Coolridge, der damals der stellvertretende Institutsleiter war, mit einem Pariser Kollegen, dessen Name in der Akte und den Verträgen geschwärzt worden war, diesen Beschluss getroffen hatten.
Solvejg entwickelte sich in ihrer Kindheit wie ein normaler Klon, effizient im Lernen, autistisch im Umgang mit Menschen und isoliert von der Außenwelt. Im Alter von fünfzehn Jahren wurden jedoch erste Anzeichen einer Anomalie in ihrem Charakter erkennbar. Während andere Klone erlernten, wie sie sich im Kreise anderer Menschen verhalten sollten, verweigerte sich Solvejg jedem Kontakt und verschloss sich immer mehr, bis Coolridge schließlich beschloss, sie in eine separate Wohngruppe auszugliedern und bei ihr die Neurohemmer abzusetzen.
Der Kontakt mit den Pariser Kollegen war zu der Zeit bereits deutlich unregelmäßiger geworden. Der Zerfall der Kommunikationsnetze schritt in den 2090ern auch auf dem europäischen Kontinent immer schneller voran, und so kamen etwa hundert Jahre nach dem sich das Internet als Massenmedium etabliert hatte nur noch sporadische Nachrichten aus den anderen großen Städten. Eine Nachricht hatte sich Anfang der 90er Jahre jedoch noch wie ein Lauffeuer in Akademikerkreisen verbreitet. In Paris war es zwei Professoren der Somatonik-Forschung gelungen, Klone bis zum Alter von acht Jahren ohne den Einfluss von Neurohemmern leben zu lassen. Nach allem, was Eva gehört hatte, nahm das Experiment danach ein unrühmliches Ende, doch das Ideal, Klone in Zukunft ohne Neurohemmer aufzuziehen, hatte Einzug in die Somatonik-Welt der Hamburger Forscher gehalten.
Und so hatte sich Coolridge der Akte nach alle verfügbaren Unterlagen des Projektes aus Paris beschaffen lassen und Solvejg nach und nach aus der Abhängigkeit der Neurohemmer befreit. Es war ein erfolgreicher Versuch, und eigentlich wäre es eine Sensation gewesen, den ersten Klon ohne Neurohemmer lebensfähig zu machen, doch dann tauchten Solvejgs Erinnerungen auf. Es war weniger der Umstand, dass sie diese Erinnerungen in unregelmäßigen Abständen in einen katatonischen Zustand versetzten, als vielmehr die Tatsache, dass die Erinnerungen älter waren, als Solvejg selbst. Sehr viel älter. Und nicht nur Eva machte sich Gedanken darüber, woher sie diese Erinnerungen hatte.
Der gläserne Fahrstuhl kam zum Stillstand. Eva zog ihren Mantel enger um sich, als sie das Foyer durchquert hatte und hinaus in die Regengischt trat. Das kleine Fährboot schälte sich geisterhaft aus dem Nebel über der Elbe und ging längsseits zum Anleger, an dem bereits einige Wartende unter Schirmen und tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen standen.
An Bord des Boots beobachtete sie sich selbst in den Scheiben, hinter denen dunkle Schemen der Wellen tanzten. Aus ihren streng zurückgebundenen schwarzen Haaren hatten sich zwei Strähnen gelöst, aus denen noch einige Regentropfen über ihre dunkle Haut rannen. Das Weiße ihrer Augen stach aus ihrem Spiegelbild hervor. Sie hatte selbst manchmal Erinnerungen an Begebenheiten, bei denen sie nicht zugegen gewesen war. Oft waren es alte Erinnerungen, die sich mit Erzählungen ihrer Eltern oder Freunde mischten, und bei denen sie mit der Zeit vergessen hatte, ob sie es erlebt oder nur davon gehört hatte. Doch Solvejg erinnerte sich an eine Zeit, die lange vor ihrer Geburt gewesen war, als die Welt noch eine andere war.
Eva fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es damals wohl gewesen war, als die Menschheit die Welt wie ein großes, gemeinsames Netz umspannte. Als Menschen auf entgegengesetzten Seiten der Erde Gespräche führen konnten, innerhalb weniger Stunden oder Tage auch entlegene Orte erreichten, zusammen als Weltgemeinschaft diskutierte, stritten, das neue Jahr feierten, Kriege begannen und beendeten. Und jeden Winkel dieser Welt kannten. Und über die Welt hinaus. Wenn es das war, woran sich Solvejg erinnern konnte, dann war sie zu beneiden. Das war natürlich nicht ihre fachliche Meinung, aber ihre persönliche. Sich in Erinnerung durch eine Welt bewegen, die nicht enge Grenzen hinter den letzten Vororten einer einzigen Großstadt hatte, zog sie dem realen Leben vor. Zumindest manchmal.
27 | ATRIUM
Sie waren die ganze Nacht und den ganzen Vormittag hindurch mit voller Geschwindigkeit gefahren. Rasmus hatte Agent Lumière angeboten, das Steuer für einige Zeit zu übernehmen, doch dieser hatte abgelehnt. Für eine Weile fragte sich Rasmus, ob sein Retter tatsächlich keinen Schlaf brauchte, oder ob er später
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