Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
Doch sie war schon peinlich berührt, wenn sie ihren eigenen Körper länger als notwendig im Spiegel betrachtete. In dieser Hinsicht war sie unsicher. Der schlimmste Traum, an den sie sich erinnern konnte, endete damit, dass sie aus der Dusche stieg und vor der Scheibe ihrer Wohnung, die genau in diesem Moment eine Fehlfunktion hatte und klar wurde, ein Notfallhelikopter schwebte, der ... irgendeinen Notfall hatte. Eva musste bei dem Gedanken daran über sich selber lachen, und dennoch war es für sie ein unangenehmes Gefühl, sich eine solche Situation vorzustellen, so absurd sie auch sein mochte.
Sie lehnte sich im heißen Wasser der Wanne zurück. Sie hatte auf den Badeschaum verzichtet, das Wasser war fast schwarz in der kaum beleuchteten Wohnung. Sie streckte die Arme über dem Kopf aus und spürte die Knoten in ihren Schultern. Eine Kollegin, mit der sie eines ihrer seltenen freundschaftlicheren Gespräche geführt hatte, hatte ihr eine Massage empfohlen. Ganz nebenbei hatte sie erwähnt, dass sie bei einer ihrer Massagen ihren Freund kennengelernt hatte und nun ihren eigenen Masseur besaß. Eva wusste nicht, was schlimmer war. Die Vorstellung, dass fremde Hände ihre Haut berührten, oder aber der Gedanke, dass sie am Ende auch in das zweifelhafte Vergnügen kam, jemanden zu besitzen.
Als sie die Arme wieder sinken ließ, stieß sie mit dem Ellenbogen gegen etwas, das auf dem Wannenrand stand. Sie drehte sich um und sah ein kleines Fernglas, das sie sich vor Jahren gekauft hatte um Ausschau nach den wenigen Schiffen zu halten, die an guten Tagen aus Richtung der Elbmündung zurück kamen. Dass sie es hier auf dem Wannenrand gelassen hatte, erschien ihr sonderbar aber nicht abwegig. Sie tendierte dazu, Gegenstände, die sie nicht oft brauchte, als Zierobjekte zu sehen und irgendwo hinzustellen, wo gerade Platz war.
Jetzt nahm sie das Fernglas zur Hand und sah hindurch. Durch die klaren Scheiben konnte sie hinaus in den Abend blicken. Eigentlich hatte sie vor, zwischen den gegenüberliegenden Wohnblocks hindurch auf die Elbe zu gucken, doch ihr Blick blieb an den erleuchteten Fenstern auf der anderen Parkseite hängen. Sie sah in Wohnungen, die sie an ihre erinnerten. Viele Menschen wohnten dort offensichtlich alleine. Einige waren dabei, sich essen zu machen, andere waren mit Aufräumen beschäftigt, saßen vor dem Comscreen und sprachen mit irgendwelchen Anrufern oder hatten Besuch, mit dem sie zusammensaßen.
Der Anblick gab Eva ein nicht erwartetes Gefühl der Sicherheit. Sie war nicht alleine in ihrer Situation. Vielen anderen Menschen um sie herum ging es ähnlich wie ihr. Sie lebten ihr Leben, sie waren stark genug, es auch alleine durchzuziehen, selbst wenn das Schicksal ihnen keine Familie oder einen Partner zugestand. Eva blieb an einer Wohnung hängen, in der ein junger Mann nackt vor seinem Herd stand und Pfannkuchen machte. Sie spürte, dass sie rot wurde, und musste lachen. Der Mann war etwas zu schlaksig für ihren Geschmack, als dass sie ihm länger zugesehen hätte, außerdem meldete sich ihr Gewissen, dass es nicht besonders anständig war, aus dem Dunkeln heraus andere Menschen zu beobachten, doch sie fühlte sich diesen Menschen plötzlich verbunden. Zufrieden entspannte sie sich etwas und lehnte ihren Kopf zurück gegen den Badewannenrand.
Und dann summte ihr Notfallmelder, den sie achtlos auf den Tisch im Wohnzimmer geworfen hatte...
29 | SOLVEJG
Das Gefühl der Verbundenheit wirkte noch etwas nach, als Eva klatschnass aus dem Bad eilte und auf das Display des Notfallmelders guckte. Es war eine standardisierte Bitte um Kontaktaufnahme mit der Klinik verbunden mit einem vierstelligen Code. Diese Codes gab man bei der Rückmeldung beim Krankenhaus an und wurde dann gleich mit den richtigen Informationen versorgt und mit dem entsprechenden Ansprechpartner verbunden.
„Aljoscha Klinikum, guten Abend Dr. Aden, haben Sie einen Code für uns?“, erklang eine tiefe Stimme aus dem Comscreen.
„Ich bin noch immer kein Doktor, Leo“, entgegnete sie. „5911 ist der Code.“
„Für mich sind Sie das“, entgegnete ihr Gesprächspartner charmant. „Sekunde, ich stelle durch zu Kershin...“
„Dr. Kershin“, ergänzte Eva reflexartig, doch Leo war bereits aus der Leitung. Es dauerte fast zwei Minuten, bis der Comscreen aufflackerte und sie vom Anblick Dr. Kershins in seinem Büro weitaus weniger charmant begrüßt wurde.
„Keine Videoleitung? Wo habe ich Sie denn
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