Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
sie erwünscht, ein ruhiger Moment, in dem sie ganz für sich war, nachdem sie dem Krankenhaus, dem Fährboot und dem Geschäft entronnen war. Ein Ort für düstere Gedanken, ein Moment, der ein Ende hatte, wenn sie aus dem Regenrauschen in das warme und trockene aber unpersönliche Foyer ihrer Wohnanlage trat und in den Fahrstuhl stieg, der sie in ihre eigenen vier Wände brachte.
Doch wenn sie in ihrer Wohnung ankam, dann musste dieser Moment vorbei sein. Sie wollte ein warmes Licht, eine freundliche Wohnung, die sie empfing, und etwas, auf das sie sich freuen konnte. Doch mittlerweile versuchte sie kaum noch, die Illusion aufzubauen, dass es so war. Niemand erwartete sie in der Wohnung. Der Portier unten im Foyer war zwar so fürsorglich, das Licht auf ihr Lieblingssetting und dezente Musik in ihrer Wohnung zu schalten, doch auch an diesem Abend war es so, wie an jedem Abend in der letzten Zeit, an dem sie nicht erst in der Nacht nach Hause kam. Sie spürte die Einsamkeit bevor sie ihre Wohnungstür erreichte.
Als sie aus dem Fahrtstuhl gestiegen war, ging sie langsamer als sonst den Gang hinunter zu ihrer Wohnung in der Hoffnung, einer der Nachbarn würde ihr zufällig auf dem Gang begegnen und in ein belangloses Gespräch verwickeln. Doch niemand tat ihr den Gefallen. Sie hielt an einem Abschnitt des Gangs an, der direkt hinter der verglasten Front des Hauses lag. Durch den Regenschleier sah sie hinab zu dem kleinen Park, durch den sie kurz zuvor gelaufen war. Sie hatte dort unten wieder den Fehler gemacht, Hoffnung zu schöpfen. Sie hatte versucht, alle düsteren Gedanken unterwegs zu denken, hatte sich sogar auf den letzten Metern vorgestellt, jemand würde sie im Haus ansprechen. Und noch als sie den Portier grüßte und den Fahrstuhl betrat, hatte sie sich das Gefühl eingeredet, der Abend könne weniger trist werden als sonst.
Heftig schüttelte sie den Kopf und aus ihren Haaren schleuderten Tropfen gegen die Scheibe. Ärger keimte für einen Moment in ihr auf, doch selbst der verpuffte auf den wenigen letzten Schritten zu ihrer Wohnungstür. Sie fühlte sich taub und isoliert. Ihre Welt war wie in Watte gepackt. Sie zog ihre ID-Card über den Scanner an der Tür und drückte diese nach Erklingen des leisen Summtons auf. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, blieb sie in dem kleinen Eingangsflur der Wohnung stehen. Sekundenlang bewegte sie sich nicht, spürte nur die Regennässe an ihr hinunter rinnen und zu Boden tropfen.
Warum war ihr Leben so, wie es war? Sie war erfolgreich in ihrem Job, galt unter den Kollegen als zielstrebig und selbstbewusst. Jemand wie sie musste doch nur raus gehen und Menschen ansprechen, wenn sie Gesellschaft wollte. Doch genau das war ihr Problem. In ihrem Beruf war sie so etwas wie ein Wunderkind. Ihre Kollegen mussten sich mit ihr beschäftigen, es stand gar nicht zur Debatte, ob sie jemand ansprach oder nicht. Damit konnte sie umgehen. Und so lange es die Arbeit betraf, war sie auch gut in der Führung von Menschen und im diplomatischen Umgang mit ihnen.
Eva begann damit, ihren Mantel aufzuknöpfen. Sie hatte es eine Zeitlang mit Dating-Angeboten versucht, ebenso hatte sie sich durchgerungen, einige Male ins Sportzentrum zu gehen, das die PharmaTerra GmbH – ihr Arbeitgeber – in ihrer Nähe betrieb. Doch geholfen hatte das alles nichts.
Sie schälte sich aus ihren nassen Kleidern und gab der Wohnungsanlage den Sprachbefehl zur visuellen Abschirmung. Die großen Fensterscheiben, die vom Boden bis zur Decke der Wohnung auf der Frontseite reichten, wurden milchig. Eva ging auf Zehenspitzen hinüber ins Bad und drehte das Wasser der Badewanne auf. Vielleicht war der Abend leichter zu ertragen, wenn sie sich aufgewärmt hatte. Sie kehrte noch einmal in den Flur zurück und sammelte ihre nasse Kleidung ein. Als sie aufsah, fühlte sie sich noch isolierte als zuvor. Die abgeblendeten Scheiben wirkten wie ein Gefängnis auf sie.
Sie zögerte einen Moment lang, dann dimmte sie das Licht auf ein schwaches, warmes Glimmen des Ambientlights und ließ die Fensterscheiben wieder aufklaren. Sie hielt ihre durchnässte Kleidung so vor ihren Körper, dass dieser weitgehend bedeckt war, als sie erneut in das Bad ging. Natürlich wusste sie, dass selbst im Falle, dass aus den Blocks auf der anderen Parkseite zufällig jemand mit einem Fernglas genau in ihre Wohnung blickte, dieser jemand aufgrund der Beleuchtung nichts von ihr hätte erkennen können, und sie kam sich albern vor.
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