Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
Viel weiter“, antwortete Isaak, „und es wird nicht ganz einfach werden. Ich muss dir dazu etwas zeigen ...“ Er hob eine Hand und legte zwei Finger leicht gegen ihre Stirn. Ninive spürte ein Rauschen, das tief aus dem Inneren ihres Körpers zu kommen schien.
„Was machst du?“, fragte sie mit unterdrückter Panik, und jetzt wollte sie zurückweichen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. „Ninive?“, hörte sie Isaaks Stimme, doch so fern, dass sie nicht mehr sagen konnte, ob sie besorgt klang oder nicht. Sie versuchte sich an etwas festzuklammern doch fand keinen Halt. Hatte sie nicht eben noch eine Stimme gehört? Hatte jemand ihren Namen gerufen? Wie war ihr Name? Sie schien zu fallen, immer weiter und tiefer. Das Rauschen schwoll an, es ließ sie erbeben, ließ ihre ganze Umgebung beben.
Und dann kam die Welle.
36 | KAFFEE
Der nächste Morgen war noch immer verregnet. Eva schlug die Bettdecke zurück und griff nach Bürste und Haarband, die auf dem Nachttisch lagen, noch bevor ihre Füße den Boden berührten. So war das jeden Morgen. Das heißt eigentlich ging der erste Griff für gewöhnlich zur kleinen Fernbedienung für den Wecker, doch das konnte sie sich an diesem Morgen sparen. Sie stand auf und stellte sich vor den kleinen Spiegel. Einen Moment dachte sie darüber nach, was sie davon abhielt, die Haare offen zu tragen. Nachdem sie die halbe Nacht Gespräche geführt hatte und elektronische Dokumente bestätigen musste, hatte man ihr den Tag freigegeben. Sie musste das Haus nicht verlassen, wenn sie nicht wollte, und Solvejg würde es vermutlich nicht interessieren, wie sie ihre Haare trug. Und dennoch konnte sie sich nicht überwinden.
Noch im Nachthemd aber mit streng geordneten Haaren öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer. Sie sah zu dem Mädchen auf dem Sofa. „Frau!“, korrigierte sie sich sofort leise. Solvejg war fast so alt wie sie und jetzt ihre Mitbewohnerin. Sie musste dringend lernen, sie nicht mehr als Mädchen zu sehen, wie es das Klinikpersonal tat. Die Bettdecke war zu Boden gefallen. Ob es daran lag, dass sie zu groß für das schmale Sofa war oder Solvejg sie absichtlich weggestoßen hatte, konnte Eva nicht sagen. Es war nicht besonders kühl im Wohnzimmer, und Eva war schon oft aufgefallen, dass Solvejg kältere Temperaturen bevorzugte.
Die Haltung sprach jedenfalls nicht dafür, dass ihr zu kalt war. Solvejg lag auf dem Rücken, das Gesicht zur Rückenlehne gedreht, ein Arm hing lang ausgestreckt seitlich des Sofas herunter. Das eindeutig zu große T-Shirt, das Eva ihr zum Schlafen gegeben hatte, war hochgerutscht und Eva betrachtete, den Ansatz der Rippen und Solvejgs Bauch, der sich im Takt ihres Atems ruhig und fast unmerklich bewegte. Ein angenehmes Gefühl überkam Eva. Sie hatte ihrer Patientin geholfen, hatte aus der durchgefrorenen, panischen Solvejg, die am Vorabend in ihren Flur gestolpert war, eine zufrieden und ruhig schlafende Solvejg gemacht. Natürlich war das eine weit weniger schwierige Aufgabe als die Fälle, die sie als Psychologin in großer Zahl gemeistert hatte, doch einerseits war der Erfolg in diesem Fall sichtbarer, und andererseits regte er eine Seite in ihr, die sie bislang nie zugelassen hatte. Sie war nicht analytisch und kalkulierend vorgegangen, sondern instinktiv und fürsorglich.
Eva stellte fest, dass sie die Schlafende noch immer beobachtete und den Drang verspürte, ihr über die Stirn zu streichen. Sie wandte sich ab und bemerkte, dass ihr Puls schneller ging. Diese neue Seite, die sie an sich entdeckt hatte, gefiel ihr zwar, machte ihr aber auch Angst. Zu schnell wollte sie Besitz von Eva ergreifen. Sie öffnete die Tür zum Bad und verschwand darin. Sie brauchte jetzt Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen, und was war dafür besser geeignet, als eine lange, einsame Dusche?
Als sie schließlich in einen knielangen Bademantel gehüllt das Bad wieder verließ, war Solvejg nicht mehr auf dem Sofa. Die Decke war sauber gefaltet und über die Armlehne des Sessels gelegt, das Kissen aufgeschüttelt und quer darüber gelegt. Eva erkannte die Ordnung der Krankenhausbettwäsche wieder, die Solvejg angenommen und perfektioniert hatte. Ein plätscherndes Geräusch aus dem Raum nebenan ließ sie aufhorchen. Sie trat durch die kleine Tür in die Küche und sah Solvejg mit der Kaffeemaschine kämpfen. Ihre Patientin hatte das Frühstück gemacht. Und wie. Der Tisch war für zwei Personen eingedeckt, die spärlichen Inhalte an Brotaufstrich,
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