Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
die Neurohemmer komplett abgesetzt, oder?“
„J-ja, das habe ich“, Ninive starrte durch ihn hindurch ins Leere. „Bereits vor einer ganzen Weile. Seitdem habe ich das Gefühl, dass mir hin und wieder der Boden unter den Füßen entgleitet.“
„Du weißt, dass es heißt, Klone könnten ohne Neurohemmer nicht überleben?“
„Nicht ohne durchzudrehen, ja, das weiß ich, aber ich habe einfach das Gefühl gehabt, dass es funktioniert. Auch wenn ich mich mittlerweile frage, ob ich nicht durchgedreht bin und das hier alles gar nicht wirklich passiert.“ Sie rang sich ein Lächeln ab, eine Geste, die sie selbst überraschte.
„Das liegt vielleicht daran, dass du nie Neurohemmer erhalten hast.“
Isaaks Satz traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. In dem Moment, da er ihn ausgesprochen hatte, verlor sie endgültig die Fassung. Ihr ganzes Leben, alles, worauf sie aufbaute, ihr rationales Denken und jede Grundlage für die Emotionen, die sie zugelassen hatte – bewusst, wie sie dachte – fiel in sich zusammen. Sie wollte aufstehen, fortrennen, schreien oder um sich schlagen, doch sie spürte nur einen ohnmächtigen Schwindel und sank im Sessel, in den sie Isaak glücklicherweise gesetzt hatte, zusammen.
38 | ISAAK
„Ich weiß, es ist schwer, in so einem Moment den Punkt zu finden, an dem man neu ansetzen kann“, fuhr Isaak ruhig fort. Ninive sah zu ihm auf. Minutenlang hatte er schweigend vor ihr gestanden, während sie panisch nach einem Gedanken gesucht hatte, der ihr Halt gab. Tränenüberströmt und erschöpft war sie schließlich zu dem Schluss gekommen, dass sie immer noch zu rationalem Denken fähig war. Und das rationale Denken sagte ihr, dass sie existierte, auch wenn sich ihre ganze Vergangenheit gerade in Luft aufgelöst zu haben schien.
„Es ist hart, das zu verstehen, aber alles was du bist, alles was du kannst, denkst und fühlst, das bist du. Nicht irgendwelche Medikamente oder Experimente. Du allein hast dich erschaffen. Und nur für den Fall, dass du dir nicht sicher bist: das ist etwas Gutes!“
„Danke“, entgegnete Ninive leise, und eine weitere Pause entstand. „Was ist mit dir?“, fragte sie dann. „Woher weißt du das alles? Warum scheinst du genau zu erahnen, wie ich denke? Lilian sagte mir, du bist auch ein Somatoniker ...“
„Es ist nur fair, dass du etwas über mich erfährst, zudem bin ich selbst ein Teil des Puzzles. Sagt dir der Code I-1 etwas?“
„Natürlich, I-1 war angeblich der erste Mensch, der die Sangre-Energie in sich trug. Er opferte sich der Wissenschaft und begründete die Somatonik-Forschung.“ Ninive spürte, wie ihr der Themawechsel etwas Ruhe gab. Sie brauchte eine Geschichte, die sie selbst nicht direkt betraf und auf die sie sich konzentrieren konnte.
Isaak lachte. „So wird es euch erzählt? Na dann ... er tat das ganz und gar nicht freiwillig. Weder hatte er sich die Energie ausgesucht oder jemals gewollt, noch war er daran interessiert, sich für die Forschung zu opfern. Er war einfach ein Mensch, der eigentlich nur sein Leben hätte leben wollen. Das war vor einhundert Jahren.“
„Ich bin davon ausgegangen, er wäre nur eine Legende.“ Ninive wischte sich mit dem Handrücken über die Wange und zupfte ihr Top zurecht.
„Das ist auch nicht ganz falsch. Viele Dinge, die man sich über ihn erzählt, sind frei erfunden, aber es gibt einen wahren Kern. Ich will dir etwas zeigen ...“
Isaak griff nach dem Saum seines Sweatshirts und zog es sich mitsamt T-Shirt in einem Ruck aus. Ninive sah ihn überrascht an. Sie hatte bereits zuvor bemerkt, dass Isaak nicht gerade schmächtig war, doch neben Seamus, der seinen athletischen Körper gerne offen zeigte, wirkte er in seiner eher praktischen Kleidung immer unscheinbarer. Ninive betrachtete das Spiel der Muskelstränge, während Isaak seine Arme aus der Kleidung befreite und diese dann achtlos über den Schreibtischstuhl warf. Gerade als Ninive sich fragte, was er ihr damit zeigen wollte, drehte sich Isaak um deutete auf eine Stelle am unteren Rücken. Auf der linken Seite seine Körper knapp oberhalb des Saums seiner Boxershorts war deutlich eine Art Strichcode mit dem Vermerk #I-1 eintätowiert.
„Warum hast du das machen lassen?“, erkundigte sich Ninive.
„Es war nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt. Die ersten Somatoniker wurden so gekennzeichnet. Es gab damals noch kein Klonprogramm und keine Neurohemmer oder andere Drogen, die unsere Energie im Zaum halten
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