Soljanka (German Edition)
Erwartung eines langen Arbeitstages ließ Stamm sich am
Morgen Zeit, ging eine Runde auf dem Rheindeich joggen, holte Brötchen und
hielt die Augen offen auf der Suche nach irgendwelchen Spuren des Stalkers.
Gegen zehn Uhr erschien er in der Redaktion, wo er die druckfrische neue
Magazin-Ausgabe auf seinem Platz fand. Sein Beitrag wurde auf der Titelseite
mit der Schlagzeile angerissen: »Schatten über dem Leuchtturm: Baut die
Russenmafia am Rhein?« Er überflog den Artikel, der mit dem Foto eines agilen
Oberbürgermeisters Kostedde an irgendeinem Messestand garniert war, und fand
ihn gegenüber der Online-Ausgabe unverändert. Die Düsseldorfer Tageszeitungen
beschäftigten sich in dritter oder vierter Priorität mit dem Thema, indem sie
auf die Ratssitzung am Nachmittag hinwiesen und mehr oder weniger die
altbekannten Fakten rekapitulierten.
Nach der kurzen Redaktionskonferenz mit einer insgesamt
positiven Manöverkritik, in der Hanne seinen angekündigten Besuch der
nachmittäglichen Ratssitzung absegnete, hatte Stamm Zeit, sich um den Fall
Dembski/Müller zu kümmern. Zum zweiten Mal in dieser Woche rief er Erika
Dembski an.
»Guten Morgen, Frau Dembski«, begrüßte er sie heiter. »Ich hoffe,
ich rufe nicht ungelegen an.« Sie verneinte, wenn auch betont reserviert. »Ja,
es ist also so, dass ich noch ein paar Erkundigungen eingeholt habe, und da bin
ich auf eine paar Dinge gestoßen, die ich nicht ganz verstehe. Hm, wie fange
ich am besten an? Es geht um Josef Müller, den ehemaligen Mitarbeiter Ihres
Mannes. Sie erinnern sich an ihn?«
»Ja, natürlich.«
»Also, Sie wissen vielleicht, dass Müller gestorben ist, wenige Tage
nach dem Bergbahn-Unglück in Kaprun …«
»Nein, das wusste ich nicht.« Sie klang angespannt.
»Müller lebte damals wie Ihr Mann in Österreich. Er war schon einige
Zeit vor Ihrem Mann dorthin gezogen. Am 4. Dezember 2000 war Müller in
Salzburg, und auf der Rückfahrt nach Kitzbühel ist er mit seinem Auto tödlich
verunglückt. Wie ich jetzt erfahren habe, hatte er damals eine Kopie der
Benachrichtigung über den Tod Ihres Mannes beim Bergbahnunglück bei sich, die
Sie vom gerichtsmedizinischen Institut Salzburg erhalten haben. Das hat mich
ein wenig gewundert. Wie kam Müller daran und warum? Und bei näherer Überlegung
ergaben sich dann noch ein paar weitere Fragen, die ich gern mit Ihnen
besprechen würde.«
Erika Dembski brauchte ein paar Sekunden, um die Informationen zu
verarbeiten. »Das ist tatsächlich komisch«, sagte sie schließlich. »Was wollte
Josef mit der Benachrichtigung?«
»Haben Sie die eigentlich noch?«, fragte Stamm.
»Ja, natürlich. Warten Sie eine Sekunde, ich kann sie sofort holen.«
Es dauerte eine Minute, bis sie wieder in der Leitung war. »So, da
ist sie ja. Das Datum ist tatsächlich der 4. Dezember 2000.«
»Ich nehme an, Sie haben kein Fax im Haus«, sagte Stamm.
»Nein, leider nicht. Ich kann Ihnen den Brief vorlesen. Sind nur ein
paar Zeilen.«
»Das wäre sehr nett«, sagte Stamm, während er das bei Annerose
Müller geklaute Papier auseinanderfaltete und den Text mitverfolgte. Es war das
gleiche Schreiben.
»Nun gut«, murmelte er, »wir werden wohl nicht mehr herausfinden,
wie Müller an den Brief gekommen ist. Ist vielleicht auch nicht so wichtig. In
diesem Zusammenhang habe ich mich aber etwas anderes gefragt. Wo hat eigentlich
die Beerdigung stattgefunden?«
»Na, in Waren natürlich. Die österreichischen Behörden haben mir
eine Urne mit der Asche meines Mannes geschickt. Es war ja nicht viel von ihm übrig
geblieben. Die kam, glaube ich, am Tag nach der Benachrichtigung an. Und dann
hat in Waren eine Urnenbestattung stattgefunden. War eine traurige Zeremonie.
Außer mir und dem Pfarrer war niemand da. Aber das war mir eigentlich auch ganz
lieb so.«
Stamm hatte ungläubig zugehört. »Moment, Frau Dembski«, sagte er.
»Nur damit ich das richtig verstehe: Die Urne ist Ihnen zugeschickt worden? Wie
denn? Als Paket?«
»Genau. Ich fand’s ehrlich gesagt sehr gut so. Wenn ich mir
vorstelle, dass ich nach Österreich hätte reisen müssen … Ich weiß nicht,
damals wäre das alles über meine Kräfte gegangen.«
»Ah ja, verstehe. Das heißt, Sie waren damals gar nicht in
Österreich. Auch später nicht?«
»Nein, warum sollte ich? Mein Mann hatte es ja nicht einmal für
nötig befunden, mir zu sagen, dass er nach Österreich geht. Das habe ich erst
nach seinem Tod erfahren. Mich zog da wirklich nichts
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