Soll das ein Witz sein? - Karasek, H: Soll das ein Witz sein?
andere: »Auf der Stirne?«
»Nein, tiefer«, antwortet der andere Clown.
»Sind’s die Augen?«, fragt der erste.
»Nein, tiefer.«
»Das süße Näschen?«
»Nein, tiefer.«
»Das Mündchen?«
»Nein, noch tiefer!«
»Der Schwanenhals?«
»Nein, tiefer.«
Die Dame fängt an, unruhig auf ihrem Sitz herumzurutschen, und blickt nervös nach ihren Kindern. Da beugt sich von hinten ein bulliger Mann nach vorn und sagt:
»Jnädigste könn janz beruhigt sein. Ick bin nämlich von der Sitte. Sobald der ›F…‹ sagt, isser auch schon verhaftet.«
Wie gesagt, die Zeiten, in denen ich das böse Wort ausschreiben oder gar öffentlich aussprechen konnte, sind wieder vorbei. Und der Witz scheint nur auf diese zotige Formulierung angelegt – in seiner einfachen, um nicht zu sagen primitiven Konstruktion. Aber da ist dann doch mehr, nämlich die Rolle der Sittenpolizei, die etwas drastisch verschlimmbessert, was doch nur vage droht. Und so hat dieser Witz etwas von der Karl-Kraus-Einsicht: »Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende bereitet.«
Für diesen Witz gilt auch das dialektische Gesetz, dass eine Tabuisierung den dauernd geheimen Diskurs am Leben hält. Wo etwas verboten ist, wird pausenlos in tabuisierten Formulierungen darüber nachgedacht. Auch das ist ein Grundmerkmal des Witzes.
Das bürgerliche Benehmen, die bürgerliche Sitte und der bürgerliche Anstand haben verschiedene Schwellen. In der Zeit des Wilhelminismus war bereits die Unterwäsche der Frau tabuisiert. Die übrigens nicht zufällig »Reizwäsche« heißt. Der Dramatiker Carl Sternheim hat im Wilhelminismus eine Komödie über eine Bürgersfrau geschrieben, die in der Öffentlichkeit die Hose verliert (es war damals garantiert noch nicht die Hose des obligaten Hosenanzugs für Ministerinnen, amerikanische Außenministerinnen und Kanzlerinnen). Dieser Vorfall veranlasst ledige Untermieter, sie auf offener Straße zu umschwirren wie Motten das Licht. Sternheim beschrieb den Inhalt seiner Komödie so: »In meinem Stück verlor ein Bürgerweib die Hose, von nichts als der banalen Sprache sprach in kahlem Deutsch man auf der Szene.« Das Stück war ein Skandal, es durfte nicht den Titel Die Hose führen, sondern musste Der Riese heißen, das war ihr Mann. Und in diesem Zusammenhang war etwas Riesiges nicht unanständig. Die Unterhosen hießen übrigens im Wilhelminismus die »Unaussprechlichen«, und ein neckischer Witz aus jener Zeit lässt einen Jungen seinen Vater fragen:
»Du Papa, was ist eine Zote?«
Worauf der Vater dem Sohn erklärt: »Deine Mutter hängt draußen die Wäsche an die Leine, und es kommt ein heftiger Wind und weht das Hemdchen hoch und die Hose runter. Dann hast du eine Zote.«
Man kann daraus lernen – auch für den Witz: Je höher die moralische Latte gelegt wird, umso leichter ist sie zu reißen. Im Eisenbahncoupé jener Zeit reizte schon ein unter dem Rock hervorlugender Knöchel einer Dame den ihr gegenübersitzenden Mann bis zum Wahnsinn. Kurt Tucholskys Lieblingsdialog aus einem russischen Eisenbahncoupé geht folgendermaßen:
Sitzt ein Graf einer edlen Dame im Zug gegenüber und fragt:
»Fahren Gnädigste auch nach Wladiwostok?«
»Nein«, antwortet sie, »nach Odessa.«
»Kommen Gnädigste auch aus Moskau?«
»Nein, aus Petersburg.«
»Genug geflirtet. Zieh dich aus, du Schwein!«
Witze suchen Borderline-Erfahrungen an den Grenzen guter Sitten und bürgerlichen Verhaltens, sie testen Tabuzonen. Welche Spannbreite an kulturgeschichtlichen Veränderungen dabei abgeschritten wird, zeigen die beiden folgenden Geschichten. Die erste müsste in einem gutbürgerlichen Haushalt um 1900 , also in einem bourgeoisen Milieu, angesiedelt sein:
Knöpft sich der Hausherr den Klavierlehrer seiner Tochter vor und sagt: »Mein Herr, Sie haben meinen Cognac getrunken, meine Zigarren geraucht, meinen Schlafrock getragen, mit meiner Frau geschlafen und meine Tochter verführt. Ich warne Sie: Gehen Sie nicht zu weit!«
Viele Jahrzehnte später: Die Eltern darf man an der aktiven Front der sexuellen Revolution vermuten. In Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone etwa, mit einer Mutter mit breiter sexueller Selbsterfahrung. Also:
Ein achtzehnjähriger Sohn wundert sich – oder soll man sagen, es fällt ihm auf einmal wie Schuppen von den Augen –, dass er halb weiß und halb schwarz, also ein Mischling ist, während seine Eltern beide weiß sind. Er geht zu seiner Mutter und fragt
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