Soll das ein Witz sein? - Karasek, H: Soll das ein Witz sein?
und kleinerer Geschichten erzählen, die alle auf die Pointe hinauslaufen: »Witz komm raus! Du bist umzingelt!« Allerdings anders, als dieser billige Kalauer auf einen schlechten Witz ursprünglich gemeint war. Hier hatte das Umzingeltsein einen schrecklichen, ja grausigen Sinn.
Nun zu meiner kleinen, eher unbedeutenden Geschichte, die ich erzähle, weil sie sich so, mit aller unfreiwilligen Komik, ereignet hat. Und die auch hätte schiefgehen können, schrecklich schief.
Eines Tages 1951 , also ein Jahr vor dem Abitur meiner Klasse, wurden wir in die Aula zusammengetrommelt. Ich weiß nicht mehr, ob es eine Feierstunde war oder was sonst, jedenfalls sang ich mit im Schulchor, wahrscheinlich das Lied der FDJ : »Bau auf, bau auf, bau auf, bau auf, / Freie Deutsche Jugend, bau auf! / Für eine bessre Zukunft / Richten wir die Heimat auf!« Auf der Bühne wurde anschließend von einem neuen Schulleiter, er war jünger als die meisten unserer Lehrer, die aus alten Studienratsgenerationen stammten, ein Stalinplakat hochgehalten. Es war das Plakat, auf dem unter Stalin, dem »besten Freund des deutschen Volkes«, meist der gnädig verzeihende Satz als Parole stand: »Die Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk, der deutsche Staat aber bleiben bestehen«. Stalin selbst sollte erst zwei Jahre später gehen. Sein System aber herrschte mit Aufweichungen und Variationen noch fast vierzig Jahre.
Der Schulleiter hielt das Plakat mit anklägerischem Pathos in die Höhe und sagte mit sich fast überschlagender Stimme, indem er auf die leeren Augenhöhlen des »besten Freundes des deutschen Volkes« zeigte, die ausgekratzt waren, irgendeine frevlerische Hand eines verkommenen Schülers habe die Augen Stalins ausgekratzt. Das war nicht schön! Ob er das religiös getönte Wort »frevlerisch« gebrauchte, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. »Freveln« hat ja immer etwas mit Gotteslästerung, Heiligenbeschmutzung, Majestätsbeleidigung zu tun, dem »Frevler« droht eine unerbittlich strenge Strafe. Und diesen Frevler wollte er vor den versammelten Schülern der Karl-Marx-Oberschule, die heute wieder Carolinum heißt, und vor ihren Klassenlehrern ermitteln, zumindest dazu aufrufen, sich zu stellen, sich selbst anzuzeigen.
Dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Ein Klassenkamerad von mir, dessen Namen ich nicht mehr weiß, weil er kurz darauf von der Schule abging, abzugehen hatte – dieser Mitschüler also, schnäuzte sich und gab dabei ein furchtbar trötendes, ja röhrendes Geräusch von sich. Alle Schüler benutzten dieses Geräusch als Ventil, um in hemmungsloses Gelächter ausbrechen zu können.
Vorne stand der Schulleiter, hielt das Corpus Delicti, das geschändete Stalinbild, noch in den Händen – um ihn herum aber konnte sich eine Horde undisziplinierter Schüler vor Lachen nicht halten. Panik ergriff den Lehrkörper. Man war sich, ohne sich verständigen zu müssen, der explosiven Situation sofort bewusst. Eilig sammelten die Lehrer die Schäfchen ihrer Klasse und führten sie in ihre Klassenräume zurück. Dort wurden die Schüler sich selber überlassen, ihre Erzieher hatten es eilig, über den bedrohlichen Vorfall zu konferieren, zu überlegen, was nach diesem Desaster zu tun wäre.
Später erfuhren wir, dass der Schüler, der mit der Nase trompetet hatte, sofort vom Schulunterricht suspendiert wurde. Er hatte übrigens Glück. Sein Vater, ein Arzt an einer Bernburger Klinik, ließ von einem Kollegen bescheinigen, dass der Sohn eine Nasenscheidewandverengung habe, das komische Geräusch also nicht in böser, noch dazu antistalinistischer Absicht oder gar trotzkistisch-titoistischer Subversion erzeugt habe. Die Sache also, der bös-unfreiwillige Witz, verlief sozusagen im Sande. Dass sie die Biografie der Familie des Nasentäters veränderte, die schnellstmöglich nach dem Westen floh, fiel damals in den unruhigen Nachkriegsjahren nicht weiter auf. Damals konnte immer Schlimmes passieren. Selbst durch einen unfreiwilligen Witz. Lachen war gefährlich.
Die Geschichte ist eine Lappalie. Sie hat nicht einmal eine Pointe. Und hätte sie eine, wäre zu überlegen, wie politische Pointen aus anderen, inzwischen stark veränderten Zeiten wirken, wenn sie nicht mehr brisant sind. Heute darf jeder über Stalin lachen. Geschichten, auch witzige Geschichten, auch Witze, dienen nur dazu, die Geschichte zu illustrieren, sie aufzubewahren. Auch Witze sind zumindest das: geschichtliche Zeitzeugnisse, Partikel,
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