Somers, Jeff - Avery Cates 01 - Der elektronische Mönch
und lauschte. Als ich die Augen schließlich wieder öffnete, hämmerte mein Herz mir bis an den Hals. Unsanft stieß ich Milton gegen die Schulter.
»Lauf!«
Ich rannte los, ohne auf sie zu warten, sprang in die einzige Deckung, die wir hatten: Die Gebäude, leer, mit geborstenen Seitenwänden, so dass es leicht war, von einem ins nächste zu gelangen. Milton blieb dicht hinter mir, war dabei aber lauter, als mir das recht sein konnte.
»Was ist denn los? Cates! Was ist los?«
»Schweber-Verdrängung!«, rief ich über die Schulter hinweg. »Noch weit weg, aber die kommen näher.«
Milton sagte nichts. Sie wusste ganz genau, was das bedeutete.
Hastig ging ich die wenigen Möglichkeiten durch, die uns blieben -wohin sollten wir rennen? Zurück zu den anderen, damit es alle auf einmal erwischen würde? Die System-Bullen waren doch nicht rein zufällig hier; in Scheiß-Newark gab es nichts, weswegen es sich lohnen würde, eine Patrouille hierher zu schicken. Hier draußen, ohne Menschenmassen, ohne Vids, ohne die eigentümlichen Gerüchte, die immer nur in überfüllten Städten die Runde machten, gab es nichts, das uns irgendeinen Schutz hätte bieten können. Hier draußen hätten die Cops nicht einmal einen Grund, uns erst einmal in eine Seitengasse zu führen, sodass niemand beobachten konnte, wie sie uns erschossen.
Wir rannten. Ich hatte reichlich Erfahrung damit und bewegte mich so gewandt und rasch ich konnte, sprang durch leere, geborstene Fenster und längst vergessene, halb eingestürzte Türrahmen. Ich krachte gegen Wände und stolperte über Schutt, und es dauerte nicht lange, bis das Tosen des Schwebers näher und näher gekommen war und gleißend weiße Suchscheinwerfer uns verfolgten.
Dann erwachten knackend auch schon die Lautsprecher des Schwebers zum Leben: »Lauft ruhig weg, ihr verdammten Ratten, aber wir haben euch jetzt im Visier!«
Als ich die Stimme hörte, stolperte ich und stürzte der Länge nach zu Boden; hart knallten meine Kiefer aufeinander, ich biss mir fest auf die Zunge, meine Waffe wurde mir aus der Hand geschleudert. Elias Moje. Diese sanfte, selbstzufriedene Stimme war unverkennbar. Milton sprang einfach über mich hinweg und machte noch drei weitere lange Sätze, bevor sie schlitternd zum Stehen kam und sich zögerlich nach mir umblickte.
»Lauf!«, rief ich und kämpfte mich wieder auf die Beine. Mein Schädel dröhnte. »Sei nicht blöd! LAUF!«
»Scheiße!«, zischte sie und rannte auf mich zu. Sie griff nach meiner Waffe, packte mich am Mantel und riss mich mit erstaunlicher Kraft wieder auf die Beine. Ich spuckte Blut, während Milton mir die Waffe zurückgab, und dann rannte sie schon wieder los, blindlings. Ich versuchte, sie einzuholen, und immer noch hatte ich den Eisengeschmack meines Blutes auf der Zunge.
Natürlich hatte der SSD eine Million verschiedener Möglichkeiten, einen festzunageln. Die waren nicht mehr an so uralte Konzepte gebunden wie ›Haftbefehle‹, ›Rechte‹ oder ordentliche Verfahren^ Die konnten einen ohne jeden Grund festnehmen und ohne Anklage unbegrenzt lange festhalten. Die hatten auch die Lizenz, einen ohne Vorwarnung zu töten, und das Einzige, was sie davon abhielt, von diesem Recht noch häufiger Gebrauch zu machen, war der damit verbundene Papierkram. Klar, den Lords und Ladies gegenüber, den Reichen, Schönen und Mächtigen, waren sie ganz handzahm – bei all den Typen, die auf Dick Marin Druck ausüben und die Abteilung für Innere Angelegenheiten dazu bringen konnten, eine Ermittlung tatsächlich einzuleiten. Aber was war mit mir? Mit uns allen, die wie Ratten durch die überfüllten Städte huschten, hier und dort ein paar Yen einstrichen – die nichts zu essen hatten und ständig in Angst lebten? Mit Leuten wie uns machten die doch, was sie wollten!
Milton und ich rannten durch leerstehende Gebäude, bogen aufs Geratewohl bald hierhin, bald dorthin ab, und versuchten, so viel wie möglich im Schutz der einsturzgefährdeten Dächer zu bleiben. Nach mehreren Minuten hielt ich an und hob die Hand. Sofort blieb Milton wie angewurzelt stehen – da sah ich wieder, dass ich es wirklich mit einem alten Profi zu tun hatte. Keuchend standen wir beide da. Ich versuchte, meine eigene Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, und lauschte angestrengt.
Nichts. Stille.
»Also gut«, sagte ich. »Wir sollten noch ein paar Minuten hier in Deckung bleiben, dann machen wir uns auf den Rückweg. Und dabei nehmen wir alles mit, was wir
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