Sommer der Entscheidung
ihm, so gut ich konnte, aber es gab nicht viel, was ich mit einem kleinen Baby machen konnte. Dann musste ich mich ja auch noch um das ganze Haus kümmern. Daddy machte sich selbst kaputt, er starb an einer Lungenentzündung. Damals gab es noch keine Antibiotika, jedenfalls nicht für Leute wie uns. Er war zu schwach, um die Krankheit aus eigener Kraft zu überwinden.“
Nancy hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, mit welcher Geschwindigkeit sich das Leben ihrer Mutter verändert hatte. Helen war in Armut aufgewachsen, das stimmte wohl, aber es hatte in ihrem Zuhause Liebe und Freude gegeben. Dann waren innerhalb weniger Jahre all die schönen Dingeverschwunden. Alles, was ihr etwas bedeutete, war plötzlich fort. Alles bis auf ein kleines Kind, das in einer einzigen Liebesnacht entstanden war.
„Wie hast du es geschafft, die Farm zu behalten?“, fragte Tessa. „Wenn es niemanden mehr gab, der dir half?“
„Ich hatte meine Witwenrente, obwohl das nicht viel war, und das bisschen, was Daddy für schlechte Zeiten gespart hatte. Ich zahlte die Steuern, bevor ich irgendeine andere Rechnung bezahlte, deswegen konnte mir der Staat die Farm nicht wegnehmen. So ist das den Leuten während der Wirtschaftskrise passiert, wenn sie nicht zahlen konnten. Ich kam gerade so durch. Als der Krieg dann zu Ende war und die Männer wieder zurückkamen, verpachtete ich so viel Land wie möglich. Und ich stellte Aushilfen ein, wenn sie billig genug waren. Ein Junge aus der Gegend pflückte für mich das Obst auf den Plantagen und kümmerte sich um die Bäume. Dann teilten wir die Erträge aus der Ernte. Ich verwandelte das kleinste Getreidefeld in einen Gemüsegarten, damit ich die Ernte auf einem Stand, den ich an der Straße aufgestellt hatte, verkaufen konnte. Das ging so von Mai bis Oktober.“
„Und du hast mich großgezogen“, fügte Nancy hinzu.
„Ich tat mein Bestes. Ich musste die Vergangenheit einfach hinter mir lassen und vorwärts schauen.“
Für Nancy beinhaltete der letzte Satz die entscheidende Frage. Die Frau, die Helen beschrieben hatte, die junge, optimistische Frau, die Nancy nie kennengelernt hatte, schien nicht das Geringste mit der bekümmerten und verbitterten Frau zu tun zu haben, die sie erzogen hatte.
„Du hast es hinter dir gelassen“, hob Nancy vorsichtig an. „Was genau hast du hinter dir gelassen?“ Sie sah kurz zu ihrer Tochter hinüber, die leicht den Kopf schüttelte, als wolle sie Nancy warnen. Doch starrsinnig, wie Nancy war,sah sie wieder weg. „Die Erinnerungen, Mama? Oder auch die Gefühle? Die Liebe, die Hoffnung, das Lachen?“
Helen schien sich die Antwort auf diese Frage zu überlegen. Sie reagierte darauf nicht ärgerlich, wie Nancy erwartet hatte. Es fiel Helen schwer zu antworten. „Nachdem dein Daddy gestorben war, wollte ich nicht zurückschauen. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.“
„Für mich ist es so, als hättest du von einer völlig Fremden erzählt. Ich habe das Gefühl, ich habe diese Frau, von der du sprichst, nie gekannt. Du hast mich nie daran teilhaben lassen, wie du früher warst. Wie die Leute waren, die dich damals geliebt haben und die mich ebenso geliebt hätten.“
„Sie waren tot.“
Nancy beugte sich vor. „Und das warst du auch.“
Helen gab sich keine Mühe, diesen Satz falsch zu verstehen. Sie nickte nicht, aber der Blick in ihren Augen gab Nancy recht. Helen stand auf und ging auf die Fliegengittertür zu, aber sie drehte sich noch einmal um, als sie die Klinke schon in der Hand hatte.
„Weißt du, ich habe sie alle verloren, Nancy. Jeden einzelnen Menschen, den ich geliebt habe. Du warst ein empfindsames Kind, du warst ständig krank. Fates kleines Mädchen. Du warst da, aber ich hatte immer Angst, ich könnte dich auch verlieren.“
Tessa wartete, bis das Fliegengitter zugefallen war. Die Nacht war voller Geräusche. Nicht weit weg schrie eine Eule, um ihr Territorium im Hartriegel zu markieren. Hinter dem Haus erschallte das Gegacker der exotischen Hühner, die ihre Großmutter züchtete. Und in der Ferne braute sich ein Gewitter zusammen, das vermutlich auch keinen Regen bringen würde.
„Sie wird erst nach den Hühnern sehen, sich ein wenigum sie kümmern, und dann geht sie runter zum Teich“, sagte Nancy. „Immer, wenn sie etwas aufregt, macht sie das. Als ich ein Teenager war, ging es den Hühnern so gut wie nie. Damals haben sie besonders viel Fürsorge bekommen.“
Tessa wollte Nancy eigentlich schelten, wollte
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