Sommer der Entscheidung
keinen anderen Ort als mein Zuhause, wo ich hätte hingehen können. Nur dort war ich auch nicht willkommen, dachte ich. Jetzt weiß ich, dass Mama verständnisvoller war, als ich ihr zugetraut hätte. Aber du musst dich daran erinnern, dass sie mich mein ganzes Leben lang weggestoßen hatte. Nur so kannte ich sie.Und wir waren damals doch arm. Ich wusste, wenn sie noch eine weitere Person am Tisch haben würde, wäre es ihr Untergang gewesen.“
Tessa versuchte, sich in Nancy hineinzuversetzen. Jung. Allein. Schwanger. Diese Gedanken erinnerten sie an etwas. Ob Cissy sich auch etwa so fühlte wie früher Nancy? War auch sie bei den Claibornes, weil sie ganz einfach keinen anderen Ort hatte, das sie ihr Zuhause hätte nennen können?
Nancy starrte auf einen Punkt hinter Tessas Kopf. „Dein Daddy und ich sind noch in derselben Nacht nach Charlottesville gezogen. Er hatte für uns ein Zimmer bei einer alten Frau gefunden, die direkt im Zentrum wohnte. Sie war wirklich nett, und ein Baby im Haus zu haben freute sie. Billy verkaufte die Corvette und erstand stattdessen einen alten Chevy, der jede Woche oder so in die Werkstatt zur Reparatur musste. Ich suchte mir einen Teilzeit]ob, um Geld dazuzuverdienen, und unsere Vermieterin hat dich in der Zeit beaufsichtigt. Es war eine fast perfekte Situation. Harry tat die ganze Sache leid, und er schickte uns weiterhin Schecks, damit dein Daddy das Studium abschließen konnte. Und als er sein Diplom in der Tasche hatte, gingen wir zurück nach Richmond, damit er in der Firma deines Großvaters arbeiten konnte. Wir kauften ein kleines Haus am anderen Ende der Stadt und wurden dort sesshaft. Inzwischen hatte sich deine Großmutter an das Unvermeidliche gewöhnt und war immer sehr höflich mir gegenüber. Sie bemühte sich sogar, dass ich von anderen Damen aus ihrem Zirkel eingeladen wurde. Auf ihre eigene Art war sie nett zu dir, besonders, als du schon älter warst. Sie konnte mit Babys einfach nicht umgehen.“
„Und so lebten sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage?“
Nancy zuckte mit den Schultern.
„Mom, das hört sich für mich nicht glücklich und zufriedenan“, fuhr Tessa fort, als Nancy ihr nicht antwortete. „Du hast dich mit so wenig zufrieden gegeben. Du hast einen Mann geheiratet, der dich nicht liebte, lebtest in einer Situation, in der du behandelt wurdest wie Aschenbrödel vor dem großen Ball. Und du bist mit Daddy all die Jahre zusammengeblieben, obwohl ihr beiden nicht das Geringste gemein habt …“
„Wir haben dich. Wir hatten Kayley.“
Auch als der Name ihrer Tochter fiel, ließ Tessa nicht locker. „Du hast dich mit so wenig abgefunden“, wiederholte sie. Sie war entsetzt. Sie hatte bisher immer geglaubt, dass ihre Eltern zusammenblieben, weil ein starkes emotionales Band zwischen ihnen war. Sie hatte vermutet, dass es eine Liebe gab, die man mit bloßem Auge von außen nicht erkennen konnte, die aber ihre Eltern spürten. Jetzt aber hatte sie erfahren, was Billys und Nancys Ehe wirklich zusammenhielt.
„Es gibt vieles in der Ehe, das du nicht verstehst.“ Nancy lehnte sich vor, in ihren Augen blitzte Wut auf. „In der Ehe geht es darum, dass man gemeinsam auf Ziele hinarbeitet. Liebe allein ist nicht alles. Natürlich spielt sie eine wichtige Rolle, aber es waren gemeinsame Ziele und Ideale, die letztendlich unsere Ehe intakt hielten.“
„Ach komm! Ich teile eine Million Ziele und Ideale mit einer Million verschiedener Menschen. Und ich möchte mit keinem einzigen von ihnen verheiratet sein. Du hast die Liebe an sich aufgegeben und dich stattdessen an Sicherheit orientiert. Ist das nicht ein bisschen zu simpel?“
„Und ist das nicht genau das, was du schon immer von mir gedacht hast? Dass ich simpel und albern und nutzlos bin? Dass ich mich immer mit weniger zufrieden gebe als du mit deinen hehren Zielen? Dass ich Liebe und Loyalität nicht von einer Louis-Vuitton-Handtasche unterscheiden kann?“
Tessa wusste, dass sie ihre Wut nicht unter Kontrolle hatte. Sie wusste auch, dass sie sich Nancy als Ziel ausgesucht hatte, weil ihre Mutter eine unterlegene Gegnerin war. Aber sie konnte sich nicht länger zurückhalten.
„Nein, das glaube ich nicht. Ich denke, dass du dir dein Leben sehr bequem eingerichtet hast. Du hast das bekommen, was du wolltest, und das wolltest du später auch nicht mehr aufgeben. Ich glaube, dass du das Beste daraus gemacht hast, aber am Ende ist es doch nur ein Kartenhaus. Was genau hast du
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