Sommer der Entscheidung
schon früher gern lesen, nur gab es immer wenig Bücher, es sei denn, ich hatte sie aus der Schule.“
„Was ist mit der Bücherei?“ Tessa fragte, ohne nachzudenken. „Dort kannst du dir so viele ausleihen, wie du magst.“
„Ich habe es ausprobiert, als ich herzog. Aber ich kam nicht häufig genug in die Stadt, um die Bücher rechtzeitig abzugeben, und dann kostete es Nachgebühr. Und Mr. und Mrs. Claiborne möchte ich damit nicht belästigen. Zeke würde mich auch in die Stadt fahren, aber wenn er abends nach Hause kommt, ist er so müde, da mag ich ihn nicht mehr fragen.“
Cissy lächelte, als würde sie einen Witz machen. „Allerdings gibt es viele Zeitschriften für Farmer und Bauernbedarf bei den Claibornes. Und sie haben die Welt-Enzyklopädie. Letzten Monat bin ich bis B gekommen, bis ich herausgefunden habe, dass Berlin nicht mehr die Hauptstadt der DDR ist und dass der Eiserne Vorhang schon längst gefallen ist. Ich habe mir überlegt, dass ich mir etwas Aktuelleres zu lesen besorgen muss, sonst bringe ich alles durcheinander.“
Es war die längste Aussage, die das Mädchen in Tessas Gegenwart gemacht hatte, und gegen ihren Willen war Tessa davon gerührt. Wenn sie Cissy unterstellt hätte, dass sie auf etwas anderes hinauswollte, hätte sie die Situation vielleicht anders wahrgenommen. Aber das Mädchen wirkte nicht im Geringsten berechnend. Und nach Jahren, Schüler zu unterrichten, konnte Tessa den Unterschied feststellen.
„Ich kann dir das Buch gern leihen“, bot Tessa widerwillig an, „aber ich warne dich, es ist nicht sehr leicht zu verstehen. Hardy macht es einem nicht leicht. Jedes Mal, wenn ich es gelesen habe, konnte ich etwas Neues entdecken, worüber ich nachdenken musste.“
„Dann muss es ein gutes Buch sein.“ Cissy hielt es ihrhin. „Aber es sollte nicht so klingen, als wollte ich es mit nach Hause nehmen. Ich …“
Tessa drückte es ihr wieder in die Hand. „Nimm es ruhig. Bring es mir einfach wieder, wenn du es durchgelesen hast.“ Tessa nahm an, dass Cissy ihr den Roman schneller als erwartet zurückgäbe, weil sie ihn nicht lesen würde.
„Oh, das ist wirklich nett von Ihnen.“ Cissy drückte das Buch an sich. „Und, Miss Henry, Ihnen bringe ich auch den Stoff mit, wie Sie mir gesagt haben.“
Helen schnaufte.
Cissy verabschiedete sich, und beide Frauen sahen ihr nach, wie sie die Treppen hinabstieg, die Motorhaube des Wagens zuknallen ließ und wegfuhr.
„Ich halte nichts davon, dass das Mädchen mit dem Claiborne-Jungen in Sünde lebt“, sagte Helen, als müsse sie Tessa zurechtweisen. „Aber ich bin eine Christin, und sie wird etwas brauchen, mit dem sie das Baby zudecken kann. Das ist der einzige Grund, warum ich angeboten habe, ihr zu helfen.“
Tessa hätte darüber gelächelt, wenn sie sich nicht so geärgert hätte, dass sie das Buch verliehen hatte. Sie brauchte wahrlich keinen Teenager, der so ausgehungert nach Liebe und Aufmerksamkeit war, dass er sich ausgerechnet drei zankende Frauen aussuchte, um zu bekommen, was er brauchte. Tessa war sich nicht sicher, was sie dazu verleitet hatte, dem Mädchen auf diese Art zu helfen. Sie wusste es nicht, und das irritierte sie.
Helen wäre nie darauf gekommen, dass man Fisch in Salat tun könnte. Tomaten, ja. Gurken, ja. Aber Nancys Salat, der auf dem Abendbrottisch stand, war mit Kartoffeln und Thunfischstückchen zubereitet. Sogar komische, salzige Oliven waren darin, die Helen nie zuvor gegessen hatte. Sie warkurz davor, etwas zu sagen, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Tochter sah. Nancy wirkte besorgt. Helen hatte sie lange nicht mehr so gesehen. Es war zu viele Jahre her, als dass sie sich daran erinnern konnte. Heutzutage hatte Nancy für alles eine Antwort parat. Nur, vielleicht stimmte das gar nicht.
„Hat das auch einen Namen?“, fragte Helen.
„Salade Niçoise.“ Nancy reichte ihr den Brotkorb und versuchte neutral auszusehen.
„Ich habe noch nie einen Salat mit Fisch drin gegessen, aber ich nehme an, es ist egal, ob er drin ist oder daneben liegt. Landet ja eh im Magen.“
„Das sieht prima aus, Mom“, sagte Tessa. „Ich glaube nicht, dass ich heute etwas Warmes hinunterbekommen hätte. Wenn das Wetter sich nicht allmählich abkühlt, schlafe ich heute Nacht draußen.“
„Du wirst bei lebendigem Leibe aufgegessen werden“, sagte Helen, nahm sich zwei Brötchen aus dem Korb und reichte ihn an ihre Enkelin weiter. „Wie Gus und Obed, als ich ihre Kleidung gestohlen hatte.
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