Sommer der Entscheidung
Kühlschrank und komme dann gleich hoch.“
Im ersten Stock ging Helen gerade zur Tür zum Dachboden, als Nancy aus ihrem Zimmer kam. Sie war dabei, einen weißen Seidenmorgenmantel, der mit kleinen rosa Röschen bedruckt war, zu schließen. „Es gibt einen Festumzug, und ihr habt mir nicht Bescheid gesagt“, sagte sie grimmig.
„Es tut mir leid, Mom, aber Gram will mir etwas auf dem Boden zeigen. Es ist eine lange Geschichte“, sagte Tessa, die gerade die Treppe hinaufkam.
„Wo warst du?“
„Das hört sich bemerkenswerterweise genauso an, wie du diese Frage in den Achtzigern gestellt hast.“
„Ich habe mir Sorgen gemacht.“
Tessa wiederholte ihre Entschuldigung fast wortwörtlich.
„Was gibt es dort oben, dass ihr es euch unbedingt jetzt ansehen müsst?“, fragte Nancy ihre Mutter.
„Komm mit, und sieh es dir selbst an. Oder noch besser, geh hinunter und mach uns Kaffee, ich bringe es dann mit herunter.“
Helen knipste das Licht an und ging die Treppe zum Dachboden hoch. Tessa folgte ihr. Sie hatte hier oben Ordnung geschaffen, aber einige Kisten lauerten immer noch in den Ecken, und im Dunklen sahen sie aus wie Monster. Der Dielenboden knarrte, und der Geruch von Staub und Mottenkugeln war schlimm, nachdem Tessa aus der klaren Nachtluft hereingekommen war.
„Der Stoff ist ganz unten in der Truhe“, sagte Helen. „Du kannst dich weit genug hinunterbücken. Ich schaffe das nicht mehr.“
Tessa ging hinüber zur Truhe und öffnete sie. Sie nahm Kleidungsstücke und andere Dinge heraus, bis sie fast amBoden angelangt war. Dort lag tatsächlich neben anderen großen Textilresten der blaue Stoff, säuberlich gefaltet. Sie nahm an, dass vielleicht noch knapp ein Meter Stoff vorhanden war.
Sie schloss die Truhe und brachte den Stoff ihrer Großmutter. „Du hattest recht. Wie lange der da wohl schon dringelegen hat?“
„Länger, als deine Mutter lebt.“
Tessa wollte sie noch mehr fragen. Gerade heute Nacht musste sie diese Fragen stellen, um das Gefühl zu haben, dass es noch andere Menschen gab, die auch Sorgen hatten, und dass sie nicht alleine war. Aber sie wusste, dass sie die Antworten erst bekommen würde, wenn sie unten bei einem Becher Kaffee beieinandersaßen.
Also folgte sie ihrer Großmutter die Treppe hinunter und löschte das Licht. Sie ging langsam, weil Helen mit großer Vorsicht jede einzelne Stufe nahm, wie ein Mensch, der die Gefahren kannte, sich einen Hüftknochen oder ein Fußgelenk zu brechen.
Als sie sich in die Küche setzten, lief der Kaffee schon durch die Maschine, und Nancy machte eine Keksdose auf, die jemand aus der Gemeinde am Morgen vorbeigebracht hatte. „Es ist schön, zu wissen, dass jemand an dich denkt, Mama“, sagte sie, als sie die Dose auf den Tisch stellte.
„Hätte nie gedacht, dass ich zu den Weggesperrten gehören würde, die alle paar Monate eine Dose mit Keksen oder einen Topf mit Chrysanthemen von den Kirchendamen bekommt. Habe mich nie so gesehen.“
„Ich habe keine Ahnung von Chrysanthemen, aber die Kekse sehen großartig aus.“ Tessa nahm sich einen und biss ab. „Schokoladenstreusel.“ Mit dem Stich im Herzen, den sie so gut kannte, erinnerte sie sich daran, dass es Kayleys Lieblingskekse waren.
Nancy stellte Becher und Kaffeesahne auf den Tisch. Danach holte sie den Kaffee und füllte die Tassen bis zum Rand. „Ich bin froh, dass ihr beide wach seid, ich konnte auch nicht schlafen.“
„Wenn du jetzt wieder anfängst, dich über die Hitze zu beschweren, lass es“, sagte Helen.
In Tessa wurde die Streitschlichterin wach. „Warum erzählst du uns dann nicht noch mehr über dich, Gram. Erzähl uns was über den blauen Stoff.“ Für Nancy fasste sie kurz ihren Einkauf in dem Handarbeitsgeschäft zusammen und erzählte, was Helen über den Stoff gesagt hatte. Dann lehnte sie sich zurück.
„Seid ihr sicher, dass ihr das wirklich hören wollt?“, fragte Helen. „Es könnte eine Weile dauern.“
„Wir haben eine Menge Kekse und genügend Kaffee“, sagte Nancy. „Viel Kaffee.“
„Wann hast du angefangen, Süßes zu essen?“
„Ich rauche nicht, ich trinke so gut wie nie etwas. Ich brauche ein Laster, damit ich den Sommer hier mit euch überstehe.“ Nancy griff in die Keksdose und holte sich eine Hand voll heraus.
Helen machte es sich bequem und sah so aus, als wolle sie gleich anfangen.
„Wahrscheinlich habt ihr es euch mittlerweile gedacht, dass der blaue Stoff etwas mit Fate zu tun hat, warum sollte er sonst
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