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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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war vermerkt, der Torre Borgia wäre mit einem massiven Glockenstuhl als Krönung der säulenförmigen Festung versehen worden, aber keinem anderen als dem Papst und seinen illegitimen Nachkommen war es gestattet, durch ein Labyrinth verschlossener Türen und Passagen so hoch auf den Turm hinaufzusteigen.
    Duane wandte sich wieder Cellinis Aufzeichnungen zu:
    Pinturicchio stieg auf Weisung seines Pontifex in die Stadt der Toten unter der Stadt hinab, um Inspiration und Modelle für die Wandbilder in den Bor-gia-Gemächern zu suchen. Dort lagen nicht die Christenkatakomben mit ihren geweihten Gebeinen, sondern die wahllosen Ausgrabungen des heidnischen Rom in all ihrem verfallenen Ruhm. Man behauptet, daß Pinturicchio Lehrlinge und neugierige Kollegen auf diese unterirdische Expedition mitgenommen habe: man stelle sich den Fackelschein in diesen Tunneln mit dem Staub der Cäsaren vor, Zugänge zu Grabkammern, Korridoren, ganze Ansiedlungen, ganze Straßen mit den Toten Roms, welche wie vergessene Arterien unter den unkrautüberwucherten Straßen unserer lebendigen, aber minderen Stadt liegen ... man stelle sich die Ausrufe vor, wenn Pinturic-chio, nachdem er die Riesenratten und Fledermausschwärme verscheucht hatte, welche sich von Tod und Dunkelheit dort unten nährten, die Fackel hob und die heidnischen Zierate offenbarte, welche von Männern dort angebracht worden waren, die seit fünfzehn Jahrhunderten und länger tot waren.
    Dieser kleinwüchsige Mann und gottlose Künstler brachte die heidnischen Zierate und Bilder in die Privatgemächer des Borgia-Papstes in dessen Turm. In der geheimsten aller geheimen Kammern des verderbten Papstes herrschten diese heidnischen Formen vor - bedeckten Wände, Bögen, Decken und selbst die Glocke aus massivem Eisen hoch droben im Torre, der man nachsagte, sie sei der Talisman der Borgias.
    Bis auf den heutigen Tag werden die verlorenen Bilder von den Unwissenden grotesques genannt, weil sie in den unheiligen unterirdischen Höhlen oder grotte in der Dunkelheit unter Rom gefunden und von dort kopiert wurden.
    Onkel Art beugte sich über Duanes Schulter und sagte: »Bist du noch nicht fertig?« Der Junge zuckte zusammen, rückte die Brille auf der Nase zurecht und brachte ein Lächeln zustande.
    »Fast.«
    Während Onkel Art rastlos zu den nächstgelegenen Regalen schlenderte, blätterte Duane die letzten Bände durch. Er fand nur noch eine Erwähnung der Glocke, wieder im Zusammenhang mit der Kunst des unrühmlichen Wandmalers namens Pinturicchio:
    Aber in der Kammer, welche vom Saal der Sieben Mysterien zur verschlossenen Treppe zum Glok-kenturm führte, welche ausschließlich die Borgias betreten durften, hatte der Maler die Essenz der begrabenen und vergessenen Fresken verewigt, welche er gewahr geworden im Licht flackernder Fak-keln, während Wasser aus geborstenen Steinen herabtröpfelte. Hier, in dem Raum, welcher später aufgrund der sieben großen Wandgemälde daselbst Saal der Heiligen genannt wurde, war Pinturicchio seiner Verpflichtung nachgekommen, indem er jeden Raum zwischen den Bildern, jeden
    Bogen, jede Nische und Säule mit Hunderten -manche Fachleute sagen Tausenden - Bildern von Bullen bedeckt hat.
    Geheimnisvoll ist nicht, daß Bullen in seinem Werk oder diesem verborgenen Ort dargestellt wurden; der Bulle war das Wahrzeichen der Familie Borgia; der gütige Ochse war seit langem eine Metapher der päpstlichen Prozession. Aber diese Bullen, fast endlos in den dunklen Fluren und Grotten und dem Zugang zur verbotenen Treppe über dem Saal der Sieben Mysterien wiederholt, gehörten keinem dieser Embleme an. Es handelte sich weder um das edle Wahrzeichen der Borgias noch um den friedfertigen Ochsen. Unzählige Male in den Gemächern reproduziert, fand man die stilisierte, aber unverwechselbare Gestalt des Opferstiers von Osiris, dem ägyptischen Gott, der über das Reich der Toten herrschte.
    Duane schlug das Buch zu und nahm die Brille ab.
    »Fertig?« fragte Onkel Art.
    Duane nickte.
    »Versuchen wir das McDonald's Drive-In beim War Memorial Drive«, sagte sein Onkel. »Ihre Hamburger haben einen Vierteldollar aufgeschlagen, aber sie sind ziemlich gut.«
    Duane nickte immer noch in Gedanken verloren und folgte seinem Onkel aus dem Keller ins Licht.
    Die Schritte von Lager Drei hatten aufgehört. Sie waren nicht weggegangen, hatten sich nicht entfernt, lediglich -aufgehört. Mike, Dale und Lawrence kauerten am niederen Eingang und warteten; sie atmeten kaum, so

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