Sommer der Nacht
sich, wie oft das in sechzig Jahren ergab? Eine Million?
Onkel Henry nickte aufmerksam und blieb, wo er war, nämlich mitten auf der Straße. Er hatte nicht vor, die Spurrillen einem anderen zu überlassen. Hier oben war es heller, obwohl die Sonne vor zwanzig Minuten untergegangen war. Auf der unebenen Fahrbahn hier oben ratterte der Laster noch lauter, dann dröhnte er in die Dunkelheit unter den Bäumen über dem Leichenbach. Auf beiden Seiten leuchteten Glühwürmchen vor dem schwarzen Wald. Das Unkraut am Straßenrand war von der Staubschicht des ganzen Tages bedeckt und sah wie Albinomutationen aus.
Als sie Richtung Wasserturm fuhren, betrachtete Duane Henry und Lena Nyquist von der Seite. Sie waren beide Mitte Siebzig -Duane wußte, daß sie in Wirklichkeit Dales Uronkel und -tante mütterlicherseits waren -, aber alle in Creve Coeur County nannten sie Onkel Henry und Tante Lena. Sie waren ein attraktives Paar und hatten diese typisch skandinavische Freiheit von allen verwüstenden Alterserscheinungen an sich. Tante Lenas Haar war weiß, aber dicht und lang, ihr Gesicht wies unter allen Fältchen noch feste, rosige Wangen auf. Ihre Augen waren strahlend. Onkel Henry hatte einiges Haar verloren, aber eine Locke hing ihm immer noch in die Stirn und verlieh ihm ein Aussehen, welches man nur als das eines schalkhaften Jungen bezeichnen konnte, der vermutet, daß er demnächst von den Behörden geschnappt wird. Duane wußte von seinem Vater, daß Onkel Henry ein Gentleman alter Schule war, aber nichtsdestoweniger bei einem Bier gerne eine zotige Geschichte erzählte.
»Ist das nicht die Stelle, wo du fast überfahren worden bist?« sagte Onkel Henry und deutete auf das Stück Feld, wo die Narben noch deutlich zu sehen waren.
»Jawoll, Sir«, sagte Duane.
»Laß beide Hände am Lenkrad, Henry«, sagte Tante Lena.
»Haben sie den Burschen erwischt, der es war?«
Duane holte Luft. »Nein, Sir.«
Onkel Henry schnaubte. »Ich würde fünf zu eins wetten, daß es dieser Tunichtgut Van Syke gewesen ist. Der Hur ...« Der alte Mann fing den warnenden Blick seiner Frau auf. »Der Hundesohn hat überhaupt nie für eine Arbeit getaugt, schon gar nicht als Schulhausmeister und Friedhofswärter. Wir können den Winter und einen Teil des Frühlings hinübersehen, und dieser... dieser Kerl Van Syke ist nie da. Würden nicht jeden Monat die Helfer von St. Malachy's kommen, würde der ganze Friedhof völlig im Unkraut ersticken.«
Duane nickte, da er nichts sagen wollte.
»Psst, Henry«, sagte Tante Lena leise. »Der junge Duane möchte nicht hören, wie du auf Mr. Van Syke schimpfst.« Sie wandte sich an Duane und strich ihm mit der rauhen, runzligen Hand über die Wange. »Wir waren so traurig, als wir das mit deinem Hund gehört haben, Duane. Ich weiß noch, wie wir deinem Daddy geholfen haben, ihn aus dem Wurf von Vira Whittackers Hündin auszusuchen, bevor du auf die Welt gekommen bist. Das Hündchen war ein Geschenk für deine Mutter.«
Duane nickte und blickte zum städtischen Spielfeld hinüber, das er so gründlich studierte, als hätte er es noch nie gesehen.
Die Main Street war überfüllt. Die schrägen Parkplätze standen bereits voller Autos, Familien gingen mit ihren Körben und Decken in Richtung Bandstand Park. Eine Gruppe Männer saß auf dem hohen Bordstein vor Carl's; sie hielten Flaschen Marke Pabst in den geröteten Händen und unterhielten sich lautstark. Wegen der Menge mußte Onkel Henry ganz unten beim A & P parken. Der alte Mann murrte, daß es ihm nicht gefiel, auf den Klappstühlen zu sitzen, die sie mitgebracht hatten; er wäre lieber im Laster sitzengeblieben und hätte so getan, als wäre er im Autokino.
Duane bedankte sich bei ihnen und eilte zum Bandstand Park. Es war schon so spät, daß er nicht mehr viel Zeit mit Mr. Ashley-Montague verbringen konnte, ehe der Film anfing, aber er wollte ihn wenigstens kurz sprechen.
Dale und Lawrence hatten nicht vorgehabt, zur Gratisvorstellung zu gehen, aber ihr Vater war zu Hause - er hatte sich den Samstag freigenommen, was selten vorkam -, Rauchende Colts und alle anderen Abendserien waren Wiederholungen, und die beiden Elternteile wollten ins Kino gehen. Sie brachten eine Decke und eine große Tüte Popcorn mit und schlenderten durch die sanfte Dämmerung zur Innenstadt. Dale bemerkte ein paar fliegende Schatten über den Bäumen, aber es waren nur Fledermäuse; die Angst der vergangenen Woche schien ein schlechter und ferner Traum zu
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