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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Rad zu steigen und davonzufahren. Der Schemen auf der anderen Seite des Pavillonkriechraums sah wie ein alter Mann im zerlumpten Trenchcoat aus - Mink trug diesen Mantel seit mindestens sechzig Jahren sommers wie winters-, und was noch entscheidender war, er roch wie Mink. Neben dem scharfen Geruch von billigem Wein und Urin herrschte eine eigentümlich moschusartige Ausdünstung vor, die typisch war für den alten Wermut-bruder, und wahrscheinlich hatte er deswegen vor Jahrzehnten seinen Spitznamen bekommen: Nerz.
    »Wer ist da?« fragte die brüchige und belegte Stimme.
    »Ich bin es, Mink... Mike.«
    »Mike?« Der Tonfall des alten Mannes war der eines Schlafwandlers, der an einem fremden Ort geweckt worden ist. »Mike Gernold? Ich habe gedacht, du wärst in Ba-taan getötet worden...«
    »Nein, Mink, Mike O'Rourke. Weißt du noch, wir beide haben vergangenen Sommer Mrs. Duggans Rasen in Ordnung gebracht. Ich habe gemäht und du hast die Büsche zurückgeschnitten.« Mike schlüpfte durch das Loch im Gitter. Hier unten war es dunkel, aber längst nicht so wie im Keller von Carl's. Kleine Diamanten aus Sonnenschein waren über dem unebenen Boden der Westseite der kreisrunden Grube verstreut, und jetzt konnte Mike auch Minks Gesicht sehen: die blutunterlaufenen Augen und stoppeligen Wangen, die rote Nase und den eigentümlich blassen Hals, den Mund des alten Mannes - Mike mußte daran denken, wie Dale tags zuvor Mr. McBride beschrieben hatte.
    »Mike«, knurrte Mink und kaute auf dem Namen herum, als wäre er ein Stück zähes Fleisch, das er mit so wenigen Zähnen nicht beißen konnte. »Mike... ja, der Junge von Johnny O'Rourke.«
    »Stimmt genau«, sagte Mike und ging näher, blieb aber vier Schritte von Mink entfernt hocken. Mit dem alten und zu großen Trenchcoat des Penners, dem Durcheinander von Zeitungen um ihn herum, einer Dose Sterno und dem Funkeln leerer Flaschen -nun, dieser Teil des Kreises unter dem Pavillon war wie ein Territorium abgesteckt. Mike wollte nicht in die Privatsphäre des alten Burschen eindringen.
    »Was willst'n, Junge?« Minks Stimme klang müde und abwesend, nicht das übliche muntere Geplänkel, das er bei Kindern fertigbrachte. Vielleicht, dachte Mike, werde ich zu alt. Mink albert lieber mit kleineren Kindern herum.
    »Ich hab' was für dich, Mink.« Er holte die gestohlene Flasche hinter dem Rücken hervor. Er hatte im Sonnenschein keine Gelegenheit gehabt, das Etikett zu lesen, und jetzt war es zu dunkel. Mike hoffte, daß er nicht eine Weinflasche voll Putzmittel aus dem Keller von Carl's mitgenommen hatte. Nicht, daß Mink den Unterschied bemerken würde.
    Die blutunterlaufenen Augen blinzelten rasch, als sie die Form von Mikes Gabe erkannten. »Das haste mir mitgebracht?«
    »Klar«, sagte Mike, der Schuldgefühle hatte, als er das Geschenk ein kleines Stückchen zurückzog. Es war, als würde man einen Hund anmachen. »Aber ich will es gegen etwas eintauschen.«
    Der alte Mann im zerlumpten Mantel hauchte Mike Alkoholdämpfe und Mundgeruch entgegen. »Scheiße. Immer Bedingungen. Okay, Junge, was willst'n? Soll der alte Mink dir im A & P was zu rauchen kaufen? Ein Bier im Carl's?«
    »Nn-nnn«, sagte Mike, der auf dem weichen Erdboden kniete. »Ich gebe dir den Wein, wenn du mir etwas erzählst.«
    Mink streckte den Hals ein wenig und sah Mike prüfend an. Seine Stimme klang argwöhnisch. »Und das wäre?«
    »Erzähl mir von dem Neger, den sie gleich nach Neujahr 1900 in Old Central aufgehängt haben«, flüsterte Mike.
    Er rechnete damit, daß der alte Wermutbruder sagen würde, er könne sich nicht erinnern - der alte Kerl hatte weiß Gott genügend Gehirnzellen ersäuft, daß diese Bemerkung logisch gewesen wäre -, oder er wäre nicht dabei gewesen, er wäre damals erst zehn gewesen - oder er wolle einfach nicht darüber sprechen -, aber statt dessen atmete er nur eine Weile keuchend, und dann breitete Mink beide Arme aus, als wollte er ein Baby halten. »Na gut«, sagte er.
    Mike gab ihm die Flasche. Der alte Mann mühte sich eine Minute mit dem Verschluß ab - »Was ist das denn, eine Art Kork oder so?« -, dann ertönte ein lautes Plop, etwas prallte zwanzig Zentimeter über Mikes Kopf gegen die Decke, und Mike warf sich zur Seite auf den weichen Boden, während Mink fluchte und dann sein eigentümliches, verschleimtes, hustendes Lachen krächzte. »Gottverdammt, Junge, weißt du, was du mir da gebracht hast? Champagner! Echten Guy Lombardo-Schaumwein!«
    Mike konnte

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