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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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machen konnte, während er an diesem dummen Ablaufrohr hinaufkletterte.
    Harlen war zwischen dem Erdgeschoß und dem ersten Stock, fast drei Meter über dem Müllcontainer, als ihm klar wurde, wie dumm sein Vorgehen wirklich war. Was sollte er machen, wenn Van Syke oder Roon oder sonst jemand vorbeikam? Womöglich Barney. Harlen versuchte sich vorzustellen, was seine Mutter sagen würde, wenn sie von ihrem Stelldichein nach Hause kam und ihren einzigen Sohn in j. P. Congdens Gewahrsam fand, wo er auf den Abtransport zum Gefängnis von Oak Hill wartete.
    Harlen lächelte grimmig. Damit würde er die Aufmerksamkeit seiner Mutter gewinnen. Er kletterte die letzten Zentimeter des Rohrs hinauf, ertastete den Sims im ersten Stock mit dem rechten Knie, preßte die Wange an den Stein und ruhte sich aus. Der Wind zerrte an seinem T-Shirt. Vor sich konnte er Licht sehen, das von der Straßenlampe Ecke School Street und Third Avenue durch das Ulmenlaub heraufschien. Er war sehr hoch droben.
    Harlen hatte keine Höhenangst. Er hatte O'Rourke und Stewart und alle anderen geschlagen, als sie im letzten Herbst auf die große Eiche hinter Congdens Garten geklettert waren. Er war tatsächlich so hoch geklettert, daß die anderen Jungs ihm zugerufen hatten, er solle herunterkommen, aber er hatte darauf bestanden, auf einen allerletzten Ast zu steigen - einen Ast, der so dünn wirkte, als würde er keine Taube aushalten, ohne abzubrechen - und vom Wipfel der Eiche über das Meer der Baumspitzen von Elm Haven zu blicken. Verglichen damit war dies hier ein Kinderspiel.
    Aber dann sah Harlen nach unten und wünschte sich, er hätte es nicht getan. Abgesehen vom Regenrohr und der Verzierung an der Ecke war nichts zwischen ihm und dem Müllcontainer und dem Betonweg acht Meter tief.
    Er machte die Augen zu, konzentrierte sich darauf, auf dem schmalen Sims das Gleichgewicht zu halten, machte sie wieder auf und sah zum Fenster hinauf.
    Es war keine fünfzig Zentimeter entfernt ... mehr einen Meter. Er mußte das verdammte Rohr loslassen, wenn er dorthin reichen wollte.
    Und der Schimmer war verschwunden. Er war fast sicher. Har-len sah plötzlich Old Double-Butt, die um die Ecke des Schulhauses kam, in der Dunkelheit zu ihm hochsah und rief: >Jim Harlen! Du kommst auf der Stelle da runter!< Und was dann? Würde sie ihn durch die sechste Klasse fallenlassen, die er gerade bestanden hatte? Seine Sommerferien streichen?
    Harlen lächelte, holte Luft, verlagerte das Gewicht auf die Knie und tastete sich platt an die Mauer gedrückt an dem Sims entlang, wo ihn außer Reibung und zehn Zentimeter Stein nichts hielt.
    Er ertastete mit der rechten Hand den Fenstersims, seine Finger klammerten sich um die seltsame Form unter dem Sims. Er hatte Halt. Alles war gut.
    Harlen blieb für einen Augenblick in dieser Position, Kopf gesenkt, Wange an der Mauer. Er mußte nur noch den Kopf heben, dann konnte er in das Zimmer sehen.
    In diesem Moment sagte ein Teil von ihm, er solle es nicht tun. Hör auf! Geh zur Gratisvorstellung! Geh heim, bevor Mom zurückkommt!
    Der Wind rauschte in den Blättern unter ihm und wehte ihm noch mehr Staub in die Augen. Harlen sah um Ablaufrohr. Kein Problem, dorthin zurückzugelangen; und hinunterzuklettern würde viel einfacher sein als herauf. Harlen stellte sich vor, wie ihn Gerry Daysinger oder einer der anderen Jungs eine Memme nannte.
    Sie müssen nicht wissen, daß ich hier oben war.
    Warum bist du dann überhaupt raufgeklettert, Arschloch!
    Harlen überlegte sich, wie er es den anderen erzählen würde - er konnte ja ein wenig ausschmücken, wenn Old Double-Butt nur hergekommen war, um ihre Lieblingskreide zu holen oder so etwas. Er stellte sich das Staunen dieser Zimperliesen vor, wenn er ihnen von seiner Kletterpartie erzählte, und daß er gesehen hatte, wie Old Double-Butt und Roon es auf ihrem Schreibtisch trieben, genau hier im Klassenzimmer ...
    Harlen hob den Kopf und sah zum Fenster hinein.
    Mrs. Doubbet war nicht an ihrem Schreibtisch am anderen Ende des Zimmers, sondern saß an dem kleinen Arbeitstisch an diesem Ende des Klassenzimmers - keine drei Schritte von Harlen entfernt. Es waren keine Lichter an, aber eine fahle Phosphoreszenz erfüllte das Zimmer mit dem ekligen Licht von verfaulendem Holz in einem dunklen Wald.
    Mrs. Doubbet war nicht allein. Die Phosphoreszenz ging von der Gestalt neben ihr aus. Diese Gestalt saß ebenfalls an dem kleinen Tisch, keine Armeslänge von der Stelle entfernt, wo Harlen

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